Zürich: Woher kommen Gefährdungsmeldungen an die Kesb? Drei Fälle geben Einblick


This article details how the Zürich Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) handles child and adult protection cases, illustrating its process through several anonymized examples.
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Der 11-jährige Lorenz rastet immer wieder aus. Seine Eltern sind überfordert. Zur Kesb sagt er: «Ich fände es gut, wenn meine Eltern Hilfe bekämen»

Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde kommt dann ins Spiel, wenn alle anderen Möglichkeiten, Probleme zu lösen, ausgeschöpft sind. Doch wer meldet die Fälle bei der Kesb?

Ein Drittel der Kindesschutzmeldungen enden mit einer Kesb-Massnahme. Annick Ramp / NZZ

Lorenz ist 11 Jahre alt, als die Kreisschulbehörde eine Gefährdungsmeldung bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) einreicht. Darin heisst es, der Fünftklässler falle sowohl im Unterricht als auch im Hort durch impulsives, teilweise aggressives Verhalten auf – gegenüber den Lehrpersonen, aber auch gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern. Die Schule vermutet, dass Lorenz ADHS, eine Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung, hat.

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Lorenz’ Eltern sind seit längerer Zeit getrennt, der Bub lebt bei seiner Mutter in der Stadt Zürich. Sie berichtet in Gesprächen mit der Schule, ihr Sohn sei zu Hause auch ihr gegenüber wiederholt gewalttätig geworden.

Obwohl die Mutter einen überforderten Eindruck macht, möchte sie keine weitere Unterstützung. Eine ADHS-Abklärung hält sie auch nach mehreren Gesprächen nicht für nötig.

Die Schule steht vor der schwierigen Frage, wie sie weiter verfahren soll – und entscheidet sich für eine Meldung bei der Kesb.

Michael Allgäuer ist Präsident der Kesb Stadt Zürich, die am Donnerstag zum Mediengespräch eingeladen hat. Die dort präsentierten Beispiele beruhen auf wahren Fällen, die aber verfremdet wurden, damit keine Rückschlüsse auf die beteiligten Personen gezogen werden können. Im Fokus stand die Frage, von wem oder welchen Stellen die Gefährdungsmeldungen an die Kesb kommen.

Beratungsangebote können viele Probleme auffangen

Dass sich Schulbehörden an die Kesb wendeten, komme selten vor, sagt Allgäuer. Gemäss Auswertungen der Kesb sind es nur 7 Prozent aller Meldungen in Kindesschutzangelegenheiten. Am häufigsten seien es Polizei und Gerichte (34 Prozent) oder Sozialdienste und Beratungsstellen (21 Prozent), die sich an die Kesb wendeten. Meldungen von Ärzten oder Spitälern sind gleich häufig wie die von Schulen.

Vor allem Letztere könnten viele Probleme schon vorher abfangen, sagt Allgäuer. Die Kesb komme erst dann ins Spiel, wenn alle freiwilligen Optionen ausgeschöpft seien. Etwa, indem Eltern die bestehenden Unterstützungs- und Beratungsangebote in Anspruch nähmen.

So führen nur 32 Prozent aller von der Kesb veranlassten Abklärungen im Zusammenhang mit dem Kindesschutz zu Massnahmen, wie beispielsweise einer Beistandschaft. Nur selten würden Kinder fremdplatziert, sagt Allgäuer. 2024 waren es in der Stadt Zürich 50 Kinder.

Für Lorenz’ Mutter kommt eine Unterstützung von ausserhalb aber nicht infrage. Auch hinsichtlich der schulischen Zukunft ihres Sohnes zeigt sie wenig Bereitschaft zur Kooperation. Der Vater ist an der Schule derweil gar nicht präsent.

Im Auftrag der Kesb kümmert sich das zuständige Sozialzentrum um den Fall. Die Abklärungen dauern vier Monate, es kommt zu verschiedenen Gesprächen mit den Eltern, aber auch mit Lorenz selbst. Zudem zieht das Sozialzentrum Lehr- und Betreuungspersonen sowie den Kinderarzt hinzu und besucht Mutter und Sohn zu Hause.

Das Sozialzentrum empfiehlt der Kesb, zum Schutz von Lorenz und zur Unterstützung seiner Eltern einen Beistand einzusetzen. Dieser könne den Eltern in schwierigen Situationen zur Seite stehen und vor allem dafür sorgen, dass sie eine Elternberatung in Anspruch nähmen. Bei Bedarf sei auch eine sozialpädagogische Familienbegleitung denkbar.

Weiter soll der Beistand zusammen mit den Eltern und der Schule erarbeiten, wie Lorenz am besten unterstützt werden kann. Etwa indem die Eltern dazu motiviert werden, einer ADHS-Abklärung oder einer Untersuchung durch den schulpsychologischen Dienst zuzustimmen.

«Wir können niemanden zwingen»

Bei allem, was die Kesb tut, wird die Freiwilligkeit der Betroffenen – ob Kinder oder Erwachsene – grossgeschrieben. «Wir können niemanden zwingen», sagt Michael Allgäuer. Grundsätzlich sei eine Massnahme erfolgreicher, wenn die Beteiligten aus freien Stücken mitmachten. Letztlich komme es immer auf den Grad der Gefährdung an.

Bei Lorenz’ Eltern muss die Kesb viel Überzeugungsarbeit leisten, bis sie zustimmen. Die Mutter stellt sich auf den Standpunkt, dass sie bisher schon alles allein gemeistert habe und das auch weiterhin könne. Der Vater erklärt, er könne den Sohn nicht einfach zu sich nehmen, wenn dieser mit der Mutter streite.

Lorenz sagt im Gespräch mit der Kesb: «Ich fände es gut, wenn meine Eltern Hilfe bekämen.» Die Trennung von Vater und Mutter belastet den Elfjährigen. Gibt es zu Hause Streit, möchte er am liebsten zum Vater. Er wisse aber, dass das nicht gehe.

Wenn Kinder über alternde Eltern streiten

In einem anderen Fall, dem der ebenfalls anonymisierten Familie Müller, sind es nicht die Eltern, die sich streiten, sondern die Kinder – und zwar wegen der Eltern. Vater und Mutter sind weit über 80 Jahre alt und wohnen noch zu Hause, in einer Liegenschaft an bester Lage. Während die Mutter körperlich und geistig fit ist, zeigt der Vater schon seit längerer Zeit kognitive Ausfälle.

Das Ehepaar Müller hat einen Vorsorgeauftrag. Darin ist festgehalten, dass sie sich zuerst gegenseitig als Vorsorgebeauftragte einsetzen. Danach sollen die Kinder gemeinsam die Eltern vertreten.

Thomas Müller und seine Schwester Anna sind sich aber schon uneinig, als noch keiner der Vorsorgeaufträge aktiviert ist. Während Anna darauf drängt, dass die Eltern in ein Pflegeheim ziehen, unterstützt Thomas deren Wunsch, weiterhin zu Hause zu wohnen. Die Müllers sind gut situiert und könnten sich auch eine 24-Stunden-Pflege zu Hause leisten, sollte diese notwendig werden. Anna findet diese Lösung nicht optimal und zu teuer.

Immer öfter kommt es zu Konflikten zwischen den Geschwistern, was bei den Eltern – insbesondere beim Vater – für Verunsicherung sorgt.

Anna Müller wendet sich schliesslich an die Kesb, in der Annahme, dass beide Eltern nicht mehr urteilsfähig seien. Der Hausarzt kommt aber zu dem Schluss, dass das nur beim Vater der Fall sei. Bei ihm besteht eine Demenzerkrankung. Die Mutter ist gemäss hausärztlicher Einschätzung sehr wohl in der Lage, für sich und für ihren Mann Entscheidungen zu treffen. Sie erhält in der Folge das Recht, ihren Mann gesetzlich zu vertreten. Die Kesb schliesst das Dossier «Müller» ohne Massnahme ab.

Zwei Jahre später sind die liquiden Mittel der Müllers praktisch aufgebraucht. Der Sohn Thomas möchte eine Hypothek auf das Haus der Eltern aufnehmen, damit sie in den eigenen vier Wänden bleiben können. Die Tochter Anna ist dagegen.

Nun wendet sich Thomas an die Kesb. Denn um eine Hypothek aufnehmen zu können, muss der Vorsorgeauftrag des Vaters validiert werden. Die Mutter ist nach wie vor in der Lage, ihren Mann rechtlich zu vertreten. Die Kesb setzt sie entsprechend als Vorsorgebeauftragte ein. Sie kann nun eine Hypothek aufnehmen.

«So viel wie nötig, so wenig wie möglich»

Kesb-Meldungen zu Erwachsenen kommen am häufigsten (38 Prozent) von Ärzten, aus Spitälern, Heimen oder von der Spitex. In 16 Prozent der Fälle sind es, wie bei der Familie Müller, die Angehörigen.

Wie bei Kindern bedeutet eine Gefährdungsmeldung auch bei Erwachsenen nicht zwangsläufig, dass die Kesb über Abklärungen hinaus aktiv wird. Konkret blieben 58 Prozent aller Gefährdungsmeldungen von 2016 bis 2024 ohne Massnahme.

Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ist die Anzahl Kesb-Massnahmen seit der Gründung 2014 stabil geblieben. In absoluten Zahlen verzeichnet die Behörde bei Erwachsenenmassnahmen eine leichte Zunahme, von 604 (2023) auf 615 (2024). Die Zahl der Kindesschutzmassnahmen ist – wie schon im Vorjahr – zurückgegangen; von 372 (2023) auf 358 (2024). Michael Allgäuer sagt, daraus lasse sich aber kein Trend ablesen. Wenn etwa eine Familie mit vielen Kindern betroffen sei, schlage sich das in der Anzahl Kindermassnahmen nieder.

Missbräuchliche Meldungen – also solche, die einzig dazu dienten, jemanden anzuschwärzen – kämen fast nie vor, sagt Allgäuer.

Herr Paul und seine Katze

Das Credo der Kesb sei stets «so viel wie nötig, so wenig wie möglich». Das bedeutet, dass es Fälle gibt, bei denen rückblickend ein früheres Einschreiten angezeigt gewesen wäre. So etwa im Fall von Herrn Paul.

Eine erste Meldung erhielt die Kesb von der Polizei. In dem Rapport hiess es, dass es in Herrn Pauls Wohnung zu einem Brand gekommen sei, ausgelöst von einer ungelöschten Zigarette. Die Wohnung des 65-Jährigen war verwahrlost, die Katze, von welcher der Rentner berichtete, unauffindbar.

Die Kesb beauftragt die gerontologische Beratungsstelle damit, die Lebensverhältnisse von Herrn Paul abzuklären.

Herr Paul hat daran aber kein Interesse, einen Hausbesuch lehnt er ab, er brauche keine Unterstützung und mit der Kesb wolle er nichts zu tun haben. Eine polizeiliche Intervention gegen den Willen von Herrn Paul erscheint unverhältnismässig. Der resolute Rentner kann überzeugend darlegen, dass es ihm gutgehe. Die Kesb schliesst das Verfahren.

Ein knappes Jahr später geht erneut eine Meldung zu Herrn Paul ein – diesmal vom Altersheim, in dem er regelmässig zu Mittag isst. Der Rentner komme zunehmend verwahrlost daher und sei teilweise stark betrunken.

Wieder laufen die Kontaktversuche der gerontologischen Beratungsstelle ins Leere. Doch diesmal lässt die Kesb nicht locker – inzwischen hat Herr Paul Betreibungen, ein Hinweis darauf, dass sich seit dem ersten Abklärungsversuch etwas negativ verändert hat.

Eine Fachperson der Kesb sucht Herrn Paul schliesslich beim Mittagessen im Altersheim auf und erklärt ihm, warum die Errichtung einer Beistandschaft beantragt wurde und was das bedeuten würde. Diesmal ist Herr Paul einverstanden.

Als die Beiständin sich dann in der Wohnung von Herrn Paul ein Bild der Lage machen kann, wird klar: Der Mann hatte seine Situation in zu gutem Licht dargestellt und hätte früher Hilfe gebraucht. Überall fanden sich ungeöffnete Rechnungen. Die Wohnung war in einem desolaten Zustand, musste geräumt und gereinigt werden. Jetzt hat Herr Paul Unterstützung von der Spitex, Administration und Finanzen sind geregelt.

Über das Schicksal von Herrn Pauls Katze konnte die Kesb auch im zweiten Anlauf nichts herausfinden.

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