Die SVP und ihre Basis sind sich nicht immer einig – eine Reportage vom Land


A Swiss news report analyzes the growing disconnect between the SVP party leadership and its base, particularly on economic and social policy issues, leading to electoral setbacks.
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«Die sind nicht mehr vom Volk», sagt ein SVPler aus Hagenbuch über die Parteispitze – eine Reportage vom Land

Die 13. AHV, die BVG-Reform, nun die Zürcher Steuervorlage: Das bürgerliche Lager verliert zunehmend, weil die SVP ihre Basis nicht überzeugen kann. Warum?

Ein Dorfplatz, eine Schule, ein Restaurant, eine einzige Partei: Das ist das SVP-Dorf Hagenbuch.

Das Dorf Hagenbuch ist kein Ort, wo man aus Versehen landet. Hierher kommt nur, wer von Winterthur aus erst S-Bahn und dann Bus fährt, bis fast in den Thurgau. Hagenbuch hat zehn Strassen und ein paar Dutzend Häuser, ein Gemeindehaus, eine Primarschule und vier Bauernhöfe. Und ein Restaurant, den «Sonnenhof», Adresse: Dorfstrasse 1. Dort treffen sich der Frauen- und der Männerturnverein, der Chor – und die SVP.

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Teil dieser SVP-Sektion ist Henri Favre, 75 Jahre alt. Er ist Wahl-Hagenbucher, einst aus der Stadt Zürich weggezogen, weil ihn die Politik dort gestört hat. «Immer war Demo, überall Linksextreme», sagt er. «Ich hatte das Gefühl, ich dürfte nicht mehr sagen, was ich wirklich denke.»

Deshalb wohnt Favre jetzt in Hagenbuch, wo es weniger Linksextreme und mehr Platz hat.

Seit er vor 25 Jahren nach Hagenbuch gezogen ist, ist Favre Mitglied der SVP Hagenbuch-Oberschneit. Eine Weile sass er im Gemeinderat, inzwischen ist er Aktuar, schreibt Protokolle, legt Rechnungen ab.

Henri Favre ist in Migrationsfragen überzeugt von der SVP – bei Abstimmungen zur Rente aber nicht.

Die SVP ist die einzige Partei in Hagenbuch. Fast 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler entschieden sich hier bei den letzten Nationalratswahlen für sie. Alle sechs Gemeinderäte – wenn auch teilweise parteilos – haben eine bürgerliche Haltung. Trotzdem beschert Hagenbuch der SVP Niederlagen.

Sei es bei Unternehmenssteuervorlagen, Fragen zur AHV oder gar Initiativen der linken Alternativen Liste: Hagenbuch stimmt immer wieder mit SP und Grünen.

Die Gemeinde steht für ein Phänomen, das man vielerorts in der Schweiz beobachten kann: Geht es um Migration und um Europa, hat die SVP ihre Basis geschlossen hinter sich. Bei wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen überzeugen hingegen andere – linke – Parteien.

Die AHV 13, die BVG-Reform, die Stempelsteuer: In den vergangenen Jahren stürzten gar manche Vorlagen ab, weil die SVP-Wähler nicht hinter der Parole der Partei standen. Verliert die Partei ihre Basis?

«Die sind nicht mehr vom Volk»

«Hagenbuch ist ein bisschen bünzlig», sagt Henri Favre, der Zugezogene. Er war 20 Jahre lang Lokführer bei den SBB, fuhr auch nach der Pensionierung noch Zug. Kurz vor der Rente kaufte er sich in Hagenbuch eine 4,5-Zimmer-Wohnung.

Dort wohnt er nun seit 15 Jahren, an den Wänden stehen Bücherregale, davor eine Stereoanlage und ein teures Rennvelo. Auf dem Esstisch liegen Zeitungen, die NZZ, aber auch der «Zürcher Bote», die Parteizeitung der SVP, und ein Magazin der «Schweizer Schüler- und Studenteninitiative», die sich gegen Einwanderung, Einbürgerungen und den Sozialstaat einsetzt.

Henri Favre ist überzeugter SVPler. Man müsse etwas machen, wegen der Zuwanderung und der Flüchtlinge, und das tue die Partei: «Die Zehn-Millionen-Schweiz, die will ich nicht, und wir brauchen mehr Grenzschutz.»

Ausserdem macht Favre die Kriminalität Sorgen. Vor ein paar Jahren, erzählt er, sei in Hagenbuch der Volg überfallen worden. Seither schliesst er seine Wohnung ab, dreht den Schlüssel immer zwei Mal um.

Der Kurs der SVP, sagt Favre, passe ihm. Und doch: Immer wieder stimmt er anders ab, als seine Partei es empfiehlt.

Besonders in Erinnerung geblieben ist ihm die Abstimmung über die 13. AHV, die die SVP ablehnte. Damit war Favre nicht einverstanden. Er stimmte überzeugt Ja, entgegen der Nein-Parole seiner Partei: «Wir geben Milliarden aus jedes Jahr für das Asylwesen, für Entwicklungshilfe – aber für eine gute AHV für die eigenen Leute reicht es nicht? Das kann nicht sein.»

Er glaubt, die Parteileitung könne diese Perspektive kaum nachvollziehen. «Die verdienen alle gut, sind im oberen Mittelstand. Die sind nicht mehr vom Volk.»

Für die SVP sitzen aus Zürich nicht nur Bauern und Gewerbler im Nationalrat, sondern auch Banker (Thomas Matter), Juristen (Nina Fehr Düsel) und Betriebsökonomen (Benjamin Fischer).

Henri Favre hat das Gefühl, dass er ein anderes Leben lebt als sie. «Ich musste mir immer Gedanken machen über die Miete, über die Krankenkassenprämien. Wenn man das nicht muss, tickt man anders.»

Von seiner Partei fühle er sich nicht mehr vertreten: «Es gibt halt einfach keine Partei für den unteren Mittelstand, auch nicht die SVP.»

Sind Wähler nicht überzeugt, enthalten sie sich

Bei der 13. AHV stimmten 55 Prozent der SVP-Wählerinnen und -Wähler wie Favre gegen die Parole ihrer Partei. Zum ersten Mal zeigte sich: Manchmal tickt die Basis anders als die SVP-Spitze.

Auch bei der Steuervorlage des Kantons Zürich, die Mitte Mai zur Abstimmung kam, stellten sich weite Teile der SVP-Basis gegen die Parteileitung. Dörfer, in denen der SVP-Wähler-Anteil sehr hoch ist, lehnten die Vorlage mehrheitlich ab. Nur linke Wahlkreise waren stärker gegen die Steuervorlage als viele Zürcher Landgemeinden.

Gesammelte Daten aus mehreren Nachwahlbefragungen zeigen, dass die SVP-Wählerschaft vor allem bei Wirtschaftsthemen linker abstimmt als die FDP – obwohl sie normalerweise rechts von ihr steht.

Silja Häusermann ist Politikwissenschafterin an der Universität Zürich und spezialisiert auf Parteipolitik. Sie sagt: «Die unteren Einkommensschichten der SVP-Wählerschaft sind in sozialpolitischen Fragen linker eingestellt als die Parlamentsfraktion, das hat sich in letzter Zeit gleich in mehreren Abstimmungen gezeigt.»

Spalten werde das die Partei aber nicht, sagt Häusermann – weil die SVP gar nicht auf Verteilungsfragen spezialisiert sei. Die SVP gewinne Wahlen mit Migrations- und Europa-Themen. «Die Abweichung ihrer Wählerschaft in Renten- und Verteilungsfragen wird für die SVP erst zum Problem, wenn diese Themen die Debatte bestimmen.»

Das heisst aber nicht, dass Abstimmungen wie jene zur AHV, zur BVG- oder zur Steuerreform gar keine Konsequenzen haben. Überzeugt die SVP ihre Wählerinnen und Wähler nicht, habe dies möglicherweise zur Folge, dass sie nicht mehr abstimmen gingen. Häusermann sagt: «Wenn sich Wählerinnen und Wähler nicht mehr vertreten fühlen, ist die erste Reaktion eher die Enthaltung.»

Viele Schweizer Flaggen in Hagenbuch: Hier müsste die SVP zu Hause sein.

Das könnte für die SVP schmerzhaft sein, weil ihr Erfolg auf der Mobilisierung beruht. Ein Grossteil der heutigen SVP-Anhänger waren vor dem Aufstieg der SVP Nichtwähler. Bei den Wahlen gehen tatsächlich fast alle an die Urne, die die SVP unterstützen – die SVP ist die Partei, die am besten mobilisiert.

Das heisst aber auch: «Wenn die SVP in Wahlen schlecht abschneidet, gewinnt deswegen nicht eine andere Partei – oft ist es eher eine Frage der tieferen Wahlbeteiligung im eigenen Lager.»

Müsste nicht auch das der Partei zu denken geben?

Der Übervater hat keine Angst

Was macht die SVP falsch, wenn sie plötzlich wirtschaftspolitische Abstimmungen wie die Steuervorlage verliert – und sozialpolitische auch?

«Die Partei kann nur das machen, wofür sie die Kraft hat. Die Wirtschaftsverbände müssten in Wirtschaftsfragen mehr machen», findet Christoph Blocher. Seine Leute seien auch von den Unternehmen enttäuscht worden. «Die Boni-Exzesse, der Credit-Suisse-Fall – das hat der Wirtschaft geschadet.» Ausserdem, sagt Blocher: «Unsere Leute fragen sich halt schon: Wenn wir mehr Unternehmen anziehen, kommen ja auch mehr Leute, und das wollen wir gar nicht.»

Man könne nicht hundert Dinge gleichzeitig tun, auch die SVP müsse sich fokussieren. Auf die Dinge, die für die Schweiz entscheidend seien, die «Staatssäulen», sagt Blocher: Unabhängigkeit, direkte Demokratie, die schweizerische Neutralität. Zurzeit bedeute das auch eine Positionierung gegen das Europa-Abkommen und die «exzessive Zuwanderung»: «Da hat eine 13. AHV-Monatsrente zweite Priorität.»

So sieht man es in Herrliberg an der Goldküste.

SVP gibt sich selbstkritisch – aber nicht zu sehr

45 Kilometer weiter, in Hagenbuch, sitzen am Freitagnachmittag im «Sonnenhof» zwei ältere Herren. Der eine trinkt ein Bier, der andere einen «Appenzeller», man unterhält sich über den Gemeinderat und darüber, wer wann in den Ferien war.

Einen Tisch weiter sitzt Therese Schläpfer, Alt-Nationalrätin der SVP und Wahl-Hagenbucherin. Aufgewachsen ist sie im Kanton Basel-Landschaft, ihr «Jä» verrät es noch heute. Doch inzwischen wohnt sie seit 32 Jahren hier, war jahrelang im Gemeinderat, bevor sie in die nationale Politik wechselte.

Auf die verlorene Abstimmung zur Steuervorlage in Zürich blickt sie selbstkritischer als Christoph Blocher. Sie sagt: «Wir waren zu wenig präsent.» Das Nein-Lager sei in Hagenbuch sichtbar gewesen, mit Plakaten und Flyern. «Aber die Pro-Plakate waren schlecht, nicht aussagekräftig. Wir Befürworter haben zu wenig mobilisiert.»

Zeigt sich so jetzt also, dass die SVP ihre Wählerschaft nicht überzeugen kann?

Manchmal schon, findet Schläpfer. Gehe es um Migration, um die EU, um SVP-Themen, sei die Partei geschlossen und aktiv. Aber: «Wenn die SVP nicht den Lead einer Kampagne hat, dann haben wir Schwierigkeiten, unsere Basis zu vereinen.»

Die SVP-Alt-Nationalrätin Therese Schläpfer gibt sich selbstkritisch.

Um das zu ändern, stellt Schläpfer Forderungen an die Wirtschaftsvertreter in ihrer Partei: «Die Unternehmer müssen lernen, Lärm zu machen. Die Bauern können das ja auch!»

Sie fügt an: «Bei den Unternehmenssteuern, bei der AHV: Die Leute haben die Nase voll von der Zuwanderung, deshalb stimmen sie so ab. Das hat nichts mit der SVP zu tun.»

Die wankende Bündnispartnerin

Die SVP vereint national 28 Prozent der Wählerinnen und Wähler hinter sich, im Kanton Zürich 27 Prozent. Schafft die SVP es nicht, ihre Wählerinnen und Wähler von der bürgerlichen Parole zu überzeugen, kann das zu Niederlagen für das ganze bürgerliche Lager führen.

Das bleibt nicht unbemerkt: «Die Parteien müssen ihre Basis mehr mitnehmen», sagte der Direktor der Zürcher Handelskammer, Raphaël Tschanz, gegenüber der NZZ nach der Niederlage der Bürgerlichen bei der Unternehmenssteuerreform. Und der FDP-Präsident Thierry Burkart kritisiert die Ausrichtung der SVP, die oft eine Verbündete der Liberalen ist. Im Interview mit CH Media sagte er: «Die SVP kippt in vielen Fragen immer mehr ins linke Lager.»

Auch Claudio Zihlmann, der FDP-Fraktionspräsident im Kantonsrat, ist besorgt. «Wir stellen schon auch fest, dass Teile der SVP-Basis in letzter Zeit bei Abstimmungen von der Parteilinie abweichen.»

Der Rest des bürgerlichen Lagers müsse das aber nicht ausgleichen. «Da sehe ich die SVP in der Pflicht», sagt Zihlmann. Die Partei müsse mehr in die Dörfer, um ihre Basis zu mobilisieren, um Menschen wie Henri Favre wieder zu erreichen. «Die SVP hat bei der Kampagne zur Steuervorlage viel gemacht – aber sie dringt nicht zu ihren Wählerinnen und Wählern durch.»

Schafft sie das nicht, wird sie zusehen müssen, wie ihre eigene Basis der Linken Erfolge beschert. Und das bürgerliche Lager muss herausfinden, wie es seine grösste Partnerin ersetzt.

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