Ende Februar wurde Facebook plötzlich wieder zu einem politischen Kommunikationsinstrument, als immer mehr politische Beiträge aus Ungarn in den Timelines auftauchten. „Ich habe vor einigen Jahren eine wichtige Entscheidung für mein Leben getroffen, die seither viele Konsequenzen hatte und schließlich in meinem Umzug von Ungarn nach Barcelona vor einem Jahr gipfelte. Ich wollte Homophobie in meinem Leben keinen Raum mehr geben. Diese Entscheidung hat Opfer gefordert: Ich habe meinen Job gekündigt, den Kontakt zu bestimmten Bekannten und eine Reihe von familiären Beziehungen abgebrochen.“
Beiträge wie dieser sind nur eine der vielen Reaktionen auf das Verbot von Pride-Paraden durch die ungarische Regierung von Viktor Orbán im März. Nac
erbot von Pride-Paraden durch die ungarische Regierung von Viktor Orbán im März. Nach der Verordnung kann die Teilnahme an der für Juni geplanten Budapester Pride teuer werden: Zwischen 6.500 und 200.000 ungarische Forint (HUF), umgerechnet 16 bis 500 Euro, sollen die zu zahlenden Strafen betragen. Wer sich dem Verbot widersetzt, kann mittels Instrumenten zur Videoüberwachung und Gesichtserkennung, die bisher zur Verfolgung von Autodiebstählen und Einbrüchen eingesetzt werden, identifiziert werden.Luca Dudits, Sprecherin der ungarischen LGBTQ-Interessenvertretung Háttér (deutsch: Hintergrund), erklärte, dass die Gesetzgebung die Pride-Parade nicht direkt „verbietet“, dem aber sehr nahekomme: „Sie haben die Pride noch nicht verboten, sie bieten ‚nur‘ eine Rechtsgrundlage dafür. Wir werden am 28. Juni weiterhin für unsere Rechte auf den Straßen von Budapest demonstrieren und hoffen, dass sich uns so viele wie möglich anschließen. Je mehr von uns dabei sind, desto sicherer wird es, und wir hoffen, dass Unterstützer:innen aus ganz Europa an diesem Tag anreisen werden, um ihre Solidarität zu zeigen.“ Gergely Karácsony, der Bürgermeister von Budapest, betonte ebenfalls, dass „Budapest die Stadt der Freiheit“ bleibe und der Pride am 28. Juni „stattfinden wird“. Unterstützung gibt es inzwischen auch von einigen EU-Ländern, darunter auch Deutschland, die Ende Mai die EU-Kommission aufforderten, härter gegen Ungarns Restriktionen gegen LGBTQI vorzugehen.Donald Trump und Wladimir Putin: Viktor Orbáns Pride-Verbot hat VorbilderViktor Orbáns Regierungspartei Fidesz hingegen hofft offensichtlich, dass ihre Maßnahmen eine abschreckende Wirkung haben werden. Diese sind lediglich der neueste Teil eines langen politischen, kulturellen und rechtlichen Kreuzzuges zur Unterdrückung der LGBTQ-Community, der statt platte Homophobie zu nutzen, sich nach außen lediglich gegen „Gender-Ideologie“ und Queer-Theory einsetzt. 2021 verabschiedete Orbáns Kabinett ein Gesetz, das „Gender-Propaganda“ für Minderjährige verbietet und damit auf einen internationalen Trend zur Einschränkung von LGBTQ-Rechten auf der Grundlage der Behauptung, ihre Aktivitäten würden „Kindern schaden“, aufsprang.Seit der Wiederwahl von Donald Trump kann sich Orbán auf einen ideologischen Verbündeten an der Spitze der US-Regierung verlassen. Gefragt, warum die Einschränkung der Pride jetzt erst kommt und nicht schon früher, erklärte Orbán: „Jetzt haben wir die nötige Kraft, um das zu tun. Solange die US-Regierung und die meisten EU-Mitgliedstaaten daran festhielten, dass [die Pride-Paraden in Budapest] stattfinden sollten, und solange sogar der US-Botschafter routinemäßig in der ersten Reihe marschierte, war die Macht der ungarischen Regierung, diese einzuschränken, begrenzt. Jetzt aber gibt es keinen US-Botschafter mehr, der in der ersten Reihe des Pride-Marsches marschiert, und deshalb haben wir eine viel bessere Möglichkeit, dies zu tun.“Ungarns Premierminister und sein politisches System werden oft beschuldigt, mit ihrer Politik den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu kopieren. Manchmal erweisen sich diese Vorwürfe als schwach, nicht so bei dem neuen Gesetz, das seit Mitte März die Versammlungsfreiheit einschränkt. In der offiziellen Begründung heißt es, dass die ungarische Regierung seit dem Gesetz von 2021 „verpflichtet ist, Minderjährige vor sexuell expliziten Inhalten zu schützen, die eine sexuelle Identität fördern, die sich von der unterscheidet, mit der jemand geboren wurde“ – dies kann als Verweis auf transsexuelle und queere Inhalte verstanden werden, aber auch als umfassenderes Verbot der Darstellung von Homosexualität in Medien und Kultur.Das Gesetz über Versammlungen und Pride-Märsche ist eine Erweiterung dieses Gesetzes, in dessen Text argumentiert wird, dass „Open-Air-Veranstaltungen“ zur Förderung von LGBTQ-Prides unter die gleiche Kategorie fallen. All dies ähnelt der russischen Gesetzgebung von 2013 gegen „homosexuelle Propaganda“. Es begann ebenfalls damit, dass Open-Air-Veranstaltungen unter Berufung auf den Schutz Minderjähriger verboten wurden. Ähnlich wie in jenem Fall betonte nun auch Gergely Gulyás, ein Minister der Regierung Orbán, dass Veranstaltungen die Budapester Pride„immer noch in geschlossenen Räumen organisiert werden kann, wo Kinder dem nicht ausgesetzt sind. Aber sie kann nicht auf der Andrássy út oder einer anderen Hauptstraße der Hauptstadt stattfinden.“ Das ist natürlich eine schlüpfrige Angelegenheit, da die russische Regierung zu einem späteren Zeitpunkt auch Indoor-Veranstaltungen verboten hat.Der ungarische Oppositionsführer hält sich lieber rausAuch die politische Reaktion passt in eine Zeit, in der LGBTQ-Rechte angegriffen werden. Während zuvor die Mehrheit der ungarischen Opposition LGBTQ-Rechte eindeutig unterstützte, wurde dieser Konsens durch den Oppositionsführer Péter Magyars von der neuen Mitte-Rechts-Partei Tisza gebrochen. Junge Demonstranten und liberale Abgeordnete organisierten Sitzstreiks auf Budapester Brücken, aber Magyar war nicht daran interessiert, sich Orbán entgegenzustellen. Er argumentierte lediglich, dass die Versammlungsfreiheit ein universelles Recht sei, das vor staatlichen Übergriffen geschützt werden müsse, auch wenn man mit dem Inhalt der Pride-Märsche nicht einverstanden sei.Zufällig wählte er den Tag der umstrittenen Parlamentsabstimmung über das Gesetz, um seine neue (heterosexuelle) Beziehung in den sozialen Medien vor einer ungarischen Flagge anzukündigen. Später kritisierte er diejenigen, die gegen das Pride-Gesetz protestierten, und schrieb, dass „diese alten Oppositionsmethoden“ gegen die Machthaber „unwirksam“ seien.Die kleinliche Polemik rund um das Thema macht deutlich, dass LGBTQ-Personen weniger denn je politische Unterstützung erwarten können. Während sich 2014 multinationale Unternehmen, NGO, westliche Botschaften und die meisten Oppositionsparteien eindeutig für die Rechte von Schwulen und Lesben aussprachen, scheint es der Regierung gelungen zu sein, durch die Dämonisierung sexueller Minderheiten, die in der Gesellschaft weniger akzeptiert werden – Transgender und Queers – die Unterstützung für LGBTQ zu reduzieren.Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2019 war eine beträchtliche Anzahl von Menschen in Ungarn der Meinung, dass Schwulsein oder Lesbischsein eine „Krankheit“ (36 Prozent) oder eine „Abweichung“ (18 Prozent) sei, doch die meisten Menschen gaben an, dass sie auf ein Coming-out unter ihren Arbeitskolleg:innen positiv reagieren würden (57 Prozent), und 71 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass es trans* Personen erlaubt sein sollte, Namen und Geschlecht zu ändern.Eine Blitzumfrage über das Verbot von Pride-Märschen im März 2025 ergab ebenfalls, dass 56 Prozent der Befragten mit den Plänen der Regierung nicht einverstanden sind. Diese Einstellungen spiegeln sich auch darin wider, dass seit 2022 nicht nur Budapest, sondern auch die südliche Stadt Pécs eine Open-Air-Parade während des Pride-Monats organisiert, und viele andere größere Städte – wie Szeged oder Debrecen – ihre eigenen LGBTQ-Gemeinschaftszentren haben. Wie schon beim Thema Einwanderung könnte es nur eine gründliche und systematische Negativpropaganda schaffen, diesen Wandel in der Gesellschaft aufzuhalten.Angriffe gegen LGBT nehmen zu„Die Regierungsmaßnahmen werden von Jahr zu Jahr schlimmer. 2020 hat die rechtliche Anerkennung der Geschlechtergleichstellung einen neuen Tiefpunkt erreicht“, sagt Luca Dudits von Háttér. In dem Jahr verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das eine Geschlechtsänderung illegal macht. „Es ist eines der Gesetze, die das Leben von trans- und intersexuellen Menschen grundlegend beeinträchtigen, da es ihr tägliches Leben auf unmenschliche Weise erschwert“. Dudits betont, dass Trans*- und Queer-Identitäten zwar jetzt ins Visier genommen werden, dies aber nicht bedeute, dass Schwule und Lesben nicht genauso diskriminiert würden.Abgesehen von der verbalen und rechtlichen Demütigung hat dies sehr konkrete, reale Folgen: Ein Mann bedrohte ein lesbisches Paar in einer Straßenbahn mit einem Messer und verteidigte sich dann vor Gericht damit, dass Viktor Orbán genauso denke. Der bekannte rechtsextreme Aktivist György Budaházy musste sich vor kurzem vor Gericht verantworten, weil er vor sechs Jahren eine LGBTQ-Veranstaltung gestört, die Teilnehmer belästigt und offiziell den Straftatbestand des bandenmäßigen Angriffs auf Angehörige einer Minderheit erfüllt hatte. Sein Anwalt argumentierte jedoch im März, dass die Regierung die Pride ohnehin verbieten wollte. Diese Beispiele zeigen, wie manche Menschen durch die Anti-LGBTQI-Propaganda der Regierung ermutigt werden.Trotzdem haben LGBTQ-Gruppen, Budapests Bürgermeister und viele Bürger das Frühjahr damit verbracht, gegen diese Gesetze zu protestieren und sich bei Mahnwachen sogar mit der Polizei anzulegen. Sie planen auch, den Budapester Pride am 28. Juni physisch zu schützen, in der Erwartung, dass sie alle Solidarität für ihre Sache aufbringen können.
Alles lesen, was die Welt verändert. Gute Argumente – 1 Monat lang kostenlos Danach für € 16 im Monat weiterlesen kein Risiko – monatlich kündbar Jetzt kostenlos testen Sie sind bereits Digital-Abonnent:in? Hier anmeldenIf you often open multiple tabs and struggle to keep track of them, Tabs Reminder is the solution you need. Tabs Reminder lets you set reminders for tabs so you can close them and get notified about them later. Never lose track of important tabs again with Tabs Reminder!
Try our Chrome extension today!
Share this article with your
friends and colleagues.
Earn points from views and
referrals who sign up.
Learn more