Ein Besuch im Klassenzimmer.
Für Karla ist der Krieg weit weg. Sie ist 18 Jahre alt und sitzt in einem Klassenzimmer des Felix-Klein-Gymnasiums in Göttingen, einer Stadt mit 120 000 Einwohnern im Bundesland Niedersachsen. Sie lese die Nachrichten, informiere sich über Kriege und Konflikte. Aber sie fühle sich sicher in der EU-Blase, sagt Karla. «Im Alltag beschäftigen mich doch ganz andere Dinge. Die Schule zum Beispiel.»
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Karla hat an diesem Donnerstagvormittag im April die Gelegenheit erhalten, mit Mitschülerinnen und Mitschülern über die Sicherheit in Deutschland und in Europa, über das Militär und den Wehrdienst zu diskutieren. Es ist eine Diskussion, wie sie in Deutschland gerade landauf, landab stattfindet: in der Politik, den Medien, in Podcasts und Talkshows.
Karlas Mitschüler Florian, der eigentlich anders heisst, denkt laut über das Wort «kriegstüchtig» nach. Wenn der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius diesen Begriff verwende, werde er unsicher, und er frage sich: «Leben wir nicht mehr in einem sicheren Deutschland?» Und Moritz ist besorgt, er sagt: «Wir haben Krieg in Europa. Wir brauchen eine Wehrpflicht.» In Göttingen ist der Krieg präsent und gleichzeitig sehr weit weg.
In Deutschland wurde die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt, die Bundeswehr ist seither eine Berufsarmee. Der Vorschlag für die Aussetzung kam von dem damaligen deutschen Verteidigungsminister der CSU, Karl-Theodor zu Guttenberg. Es sei sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar, weshalb die Wehrpflicht weiter finanziert werden sollte, lautete die Begründung. Viele andere Nato-Staaten hatten schon nach dem Ende des Kalten Krieges auf eine Berufsarmee umgestellt.
Doch die Sicherheitslage in Europa hat sich verändert. Zunächst mit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014, dann mit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022. Nun steht in Deutschland die Wehrpflicht wieder zur Debatte. Betroffen davon wären vor allem die Jungen. Doch wollen sie überhaupt zum Militär?
In dem Schulzimmer in Göttingen sitzen neben Karla, Florian und Moritz 12 weitere Schülerinnen und Schüler, alle sind 17 oder 18 Jahre alt. Im Raum ist es ruhig, die Stimmung ernst. Wenn jemand spricht, blicken die anderen gebannt in seine Richtung. Einige erzählen, dass sie sich an den Tag erinnerten, als der Krieg in der Ukraine ausgebrochen sei. Karla sagt, sie habe noch immer einen Screenshot der Mail des Rektors auf dem Handy, in der er sie über die Ereignisse informiert habe.
Florian sagt, er habe vor einiger Zeit sein Erspartes in Aktien investiert. Er habe die Anlagemöglichkeiten studiert und Rheinmetall-Aktien gekauft. Er sagt: «Das Unternehmen stellt Waffen her, ich verdiene gerade an meinen Aktien und frage mich zunehmend: Wie will ich mich zum Krieg verhalten?» Eine Antwort darauf hat er noch nicht gefunden.
In den Zimmern nebenan finden an dem Vormittag Abiturprüfungen statt. In einem Jahr werden auch diese Schülerinnen und Schüler Abitur schreiben und sich entscheiden müssen: Welches Studium wähle ich? Welcher Arbeit gehe ich nach? Nun ist noch eine Frage dazugekommen: Muss ich zur Bundeswehr?
Als die Frage in der Diskussion aufkommt, heben viele Schülerinnen und Schüler gleichzeitig die Hände. Moritz spricht als Erster, er sagt: «Ich denke, dass ich zur Bundeswehr gehe.» Das Verhalten des russischen Präsidenten Wladimir Putin, aber auch das des amerikanischen Präsidenten Donald Trump machten ihm Angst, sagt er. Es sei wichtig, dass Deutschland wieder eine stärkere Bundeswehr habe. Er selbst will seinen Teil dazu beitragen und überlegt deshalb, Dienst zu leisten. Er sagt: «Es ist das Schicksal unserer Generation, zum Militär zu gehen.»
Moritz ist der Einzige, der das so klar sagt. Ein, zwei andere Schüler sagen, dass sie darüber nachdächten. Auch sie sind der Meinung, dass es angesichts der weltpolitischen Lage wichtig sei, eine starke Armee zu haben. Deutschland habe als Nato-Land die Pflicht, auch andere Länder zu verteidigen, lautet eine Begründung.
Jakob will auf keinen Fall Wehrdienst leisten. Er habe spanische Wurzeln, sein Grossvater sei in der Militärdiktatur unter Franco aufgewachsen und nach Deutschland geflüchtet, um der Unterdrückung durch das Militär zu entkommen. Das habe ihn geprägt, er wolle auf keinen Fall kämpfen, sagt er. Doch er könne sich vorstellen, den Staat anderweitig zu unterstützen. In Form eines Zivildienstes zum Beispiel.
Andere pflichten Jakob bei. Viele wollen den Staat, aber nicht die Gewalt unterstützen, keine Waffe bedienen. Jemand fragt: «Warum sollen Tausende ihr Leben verlieren, nur weil eine Handvoll Politiker sich nicht einigen können?»
Was die Klasse in Göttingen umtreibt, bewegt im Grossen ganz Deutschland. Alle paar Wochen wird eine neue Umfrage publiziert, die ermittelt, was Menschen in Deutschland über den Wehrdienst, die Wehrpflicht, die Bereitschaft zur Verteidigung Deutschlands mit der Waffe denken. Timo Graf ist Militärsoziologe am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaft der Bundeswehr in Potsdam. Er kennt diese Umfragen und sagt: «Die Bundeswehr hat wieder Alltagsrelevanz.» Auch er verantwortet eine Bevölkerungsbefragung zu diesem Thema, einen Bericht über das sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbild.
Die Bundeswehr führt seit 1996 solche Befragungen durch. Doch erst seit kurzem interessiert sich die Öffentlichkeit für das, was Graf und sein Team erheben. «Noch vor wenigen Jahren waren wir bei Medienanfragen ganz aus dem Häuschen.» Nun sei das Alltag, sagt Graf. Er gibt Interviews, wird in den Bundestag oder zu Gesprächen auf die amerikanische Botschaft eingeladen. Laut Graf ist der Diskurs ernster geworden. Und, sagt er: «Wenn die Debatte die Jungen betrifft, betrifft es ganze Familien.»
Die Zahlen des sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbilds aus dem Jahr 2024 zeigen: Bei Personen unter 30 Jahren halten 41 Prozent der Männer und 33 Prozent der Frauen die Einführung einer Wehrpflicht für notwendig. Über alle Altersgruppen hinweg befürworten 54 Prozent aller Männer und 44 Prozent aller Frauen eine allgemeine Wehrpflicht, die sowohl für Frauen als auch für Männer gilt. Die Umfragen aus den Jahren 2023 und 2022 zuvor zeigen ähnliche Zahlen. Nur: Weiter zurückblicken, in die Zeit vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, kann man nicht. Die Meinung zur Wiedereinführung der Wehrpflicht wurde nicht eingeholt. Graf sagt: «Diese Frage stellte sich einfach nicht.»
Die Umfrage von 2024 erfasst auch, wie viele Personen sich tatsächlich eine Arbeit bei der Bundeswehr vorstellen können. Bei den Männern zwischen 16 und 29 Jahren sind es 29 Prozent, die als Soldat zur Bundeswehr gehen würden. Das sind 10 Prozent mehr als im Jahr zuvor. 35 Prozent können sich vorstellen, als Zivilist bei der Bundeswehr zu arbeiten. Bei den Frauen in diesem Alter sind es 8 beziehungsweise 22 Prozent. In den Medien wurden diese Zahlen in den vergangenen Wochen rauf und runter diskutiert. Junge Menschen wollten nicht zum Militär, hiess es immer wieder. Graf aber findet diese Zahlen erfreulich: «Das Interesse am Soldatenberuf ist gestiegen. Es ist eine unrealistische Vorstellung, dass alle jungen Männer Soldaten werden sollten.»
Die Schülerinnen und Schüler aus Göttingen waren drei oder vier Jahre alt, als die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt wurde. Sie kennen die Bundeswehr bis jetzt nur als Berufsarmee. Und zwar als eine, die als schwach gilt: Jahrelang gab es kaum Investitionen in das Militär. Griffe Russland ein Nato-Land an, könnte Deutschland wenig zur Bündnisverteidigung beitragen.
Doch nun, nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022, soll es zur Zeitwende kommen. So jedenfalls kündigte es der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz an. Der Bundestag beschloss, im Rahmen eines Sondervermögens 100 Milliarden in die Bundeswehr zu investieren. Eineinhalb Jahre später sagte der Verteidigungsminister Boris Pistorius Worte, die nachhallen: «Wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.»
Im März dieses Jahres beschloss der Bundestag, die Schuldenbremse zu lockern. Das ermöglicht Milliardeninvestitionen in die Sicherheit und Verteidigung – und damit auch in die Bundeswehr. Wie diese Milliarden investiert werden, ist noch unklar. Und ein weiteres Problem bleibt: der Personalmangel in der Bundeswehr.
203 000. Diese Zahl geistert seit Monaten durch die Medien, auch die Schülerinnen und Schüler in Göttingen kennen sie. So viele aktive Soldaten will die Bundeswehr bis 2031 beschäftigen – mindestens. Das Ziel dürfte in den kommenden Monaten noch einmal erhöht werden. Ende 2024 zählte die Bundeswehr laut dem Jahresbericht zirka 181 000 Soldaten, unter ihnen 113 000, die sich nur für einige Monate verpflichtet haben. Und immer mehr Soldaten scheiden wegen ihres Alters aus dem Dienst.
Im Koalitionsvertrag hat die neue Regierung einen «Wehrdienst nach schwedischem Vorbild» vereinbart. Das heisst: Eine Wehrpflicht ist vorerst nicht geplant. Die Bundeswehr will aber einen Fragebogen verschicken. Junge Männer müssen diesen ausfüllen, Frauen dürfen. Basierend auf dieser Umfrage soll die Bundeswehr jene jungen Menschen ansprechen, die sie für geeignet für den Wehrdienst hält. Das entsprechende Gesetz könnte laut dem Verteidigungsminister Pistorius noch in diesem Jahr in Kraft treten.
Es braucht also neue, jüngere Soldaten. Doch in Göttingen blicken einige der Schülerinnen und Schüler auch unabhängig von der Wehrpflicht kritisch auf die Bundeswehr. Eine Sorge ist die politische Gesinnung der Soldaten. Sie hätten gehört, dass viele der Soldaten rechts seien, das bereite ihnen Sorgen. Ein weiterer Schüler spricht den Aufstieg der rechtsextremen AfD an. Würde diese Partei in Deutschland bundesweit regieren, würde er Deutschland keinesfalls dienen wollen.
Viele der Jugendlichen befürworten allerdings höhere Ausgaben für die Verteidigung. Zudem würden sie den Staat gerne unterstützen. Viele sagen, sie würden Zivildienst leisten, zum Beispiel in einem Spital oder Altenheim. Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 konnten Kriegsdienstverweigerer Zivildienst leisten. Das galt allerdings nur für Männer. Die Schülerinnen und Schüler würden einen Zivildienst für Männer und Frauen befürworten. Dies ist momentan allerdings nicht geplant. Ein Schüler sagt: «Es würde die Gesellschaft zusammenbringen.»
Unter den Jugendlichen in Göttingen wollen, Stand heute, wenige tatsächlich Wehrdienst leisten. Sie fangen gerade erst an, ernsthaft über Krieg und Frieden, über Verteidigung und Sicherheit nachzudenken. Gegen Ende der Stunde sagt eine Schülerin: «Ich will halt nicht mein Leben für Friedrich Merz riskieren.» Zum ersten Mal in dieser Stunde wird gelacht. Dann stürmen die Schülerinnen und Schüler aus dem Klassenzimmer. Noch ein Jahr bis zum Abitur.
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