Der Bombenleger des Attentats von 1974 in Brescia lebt in Graubünden und wurde soeben zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Der damals minderjährige Täter ist in der Schweiz eingebürgert. Ständerat Carlo Sommaruga verlangt den Entzug des Bürgerrechts des Rechtsterroristen.
Er trug den Spitznamen «Tomaten». Denn er war schüchtern und seine Wangen schnell gerötet, wenn er in Verlegenheit geriet. Doch der junge Mann aus Verona namens Marco Toffaloni war keineswegs zaghaft, wenn es darum ging, einen Terrorakt zu verüben. Fünf Tage vor seinem 17. Geburtstag, am 28. Mai 1974, versteckte er zusammen mit einem Komplizen einen Sprengsatz in einem Papierkorb auf der zentralen Piazza della Loggia in Brescia.
Um 10.12 Uhr explodierte die Bombe just während einer Grosskundgebung gegen neofaschistischen Terror. Acht Menschen starben auf der Stelle, mehr als 100 Menschen wurden verletzt.
Die Öffentlichkeit stand angesichts des Blutbades unter Schock. Es waren die bleiernen Jahre in Italien, als Attentate durch Rechte und Linke das Land erschütterten. Toffaloni selbst war ein militantes Mitglied der neofaschistischen Organisation Ordine Nuovo (Neue Ordnung), die ihre Zentrale in Verona unterhielt. Ein Foto von damals zeigt, dass er sich in unmittelbarer Nähe des Tatorts befand.
Ende letzter Woche wurde Toffaloni vom Jugendgericht in Brescia zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft, welche diese Höchststrafe gefordert hatte. Das Gericht zeigte sich überzeugt, dass er einer von zwei Tätern war, welche die Bombe physisch deponiert hatten. Das Jugendgericht war zuständig, weil Toffaloni zum Tatzeitpunkt minderjährig war.
Dass ein solches Urteil erst fünfzig Jahre nach dem Terrorakt gesprochen wird, gehört durchaus zur italienischen Normalität. Die Aufarbeitung der damaligen Attentate dauert Jahrzehnte und hält bis heute an. Vieles bleibt im Mysteriösen. Im Fall des Anschlags von Brescia sind die Drahtzieher bereits verurteilt worden, doch erst ab Mai 2024 fand der Prozess gegen die eigentlichen Bombenleger statt.
Der heute 67-jährige Toffaloni selbst war weder während des Prozesses noch beim Urteil anwesend. Er lebt schon seit Mitte der 1980er-Jahre in der Schweiz. Er hatte in seinem politischen Umfeld eine Bündnerin kennengelernt, war in die Schweiz gezogen und hatte nach der Einbürgerung ihren Namen angenommen und nach der Scheidung auch behalten.
Die Namensänderung war wohl Teil eines Planes, nicht erkannt zu werden und unterzutauchen. Doch ganz gelungen ist ihm dies nicht. Ein Recherche-Team des italienischsprachigen Senders RSI hat ihn vor kurzem vor einem Supermarkt von Landquart GR erspäht. In dieser Bündner Gemeinde lebt er. Doch der Mann türmte Hals über Kopf, als er mit einer Frage der Fernsehjournalistin konfrontiert wurde.
Die Jugendstaatsanwaltschaft Brescia hatte letztes Jahr eine zwangsweise Begleitung zum Prozess beantragt. Doch diese wurde vom Bundesamt für Justiz (BJ) nicht gewährt, «da es in der schweizerischen Gesetzgebung keine entsprechende Rechtsgrundlage gibt», wie das BJ auf Anfrage festhält.
Das Gleiche gilt für eine Auslieferung nach Italien, die nicht erfolgen wird. «Schweizer Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht an einen anderen Staat ausgeliefert werden, es sei denn, sie stimmen dem schriftlich zu», heisst es. Ein Antrag auf Strafvollstreckung durch Italien an Schweizer Behörden wäre möglich, ist in diesem Fall bisher aber nicht eingegangen.
Eine Möglichkeit, um Toffaloni zur Rechenschaft zu ziehen, wäre über den Entzug des Bürgerrechts und einen darauffolgenden Landesverweis. Genau diesen Vorschlag hat der Genfer SP-Ständerat Carlo Sommaruga in einem Vorstoss diesen März gemacht, als das Urteil gegen Toffaloni absehbar war. Er verweist darauf, dass Schweizer Bürgern das Bürgerrecht entzogen wurde, die für die Terrororganisation IS tätig waren.
Gemäss Angaben des Staatssekretariats für Migration (SEM) sind bis heute fünf Entzugsentscheide von Einbürgerungen gegen Personen ergangen, die terroristische Akte unterstützt beziehungsweise begangen haben. Drei Entscheide sind rechtskräftig, gegen zwei Entscheide sind Beschwerden hängig.
Der Fall Toffaloni erinnert unter manchen Gesichtspunkten an die Geschichte des italienischen Rotbrigadisten Alvaro Lojacono-Baragiola, der in den bleiernen Jahren an etlichen linksterroristischen Mordanschlägen beteiligt war. Er war nach einem aufsehenerregenden Prozess wegen seiner Beteiligung an Attentaten in Italien 1989 zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Davon sass er dann 11 Jahre tatsächlich ab.
Wegen Mittäterschaft bei weiteren Attentaten und ergangener Urteile gelangte Italien danach an die Schweiz und verlangte seine Auslieferung. Doch dem Begehren wurde nie Folge geleistet, weil Alvaro Lojacono-Baragiola dank der Staatsbürgerschaft seiner schweizerischen Mutter eingebürgert worden war und seine italienische Staatsbürgerschaft verloren hatte. Seinen Namen hatte er von Lojacono auf Baragiola geändert.
Nach Absitzen seiner Gefängnisstrafe baute sich der heute 70-Jährige ein neues Leben auf, arbeitete unter anderem bei der RSI, später aber auch an der Universität Freiburg. Ein öffentliches Auftreten vermeidet er seither tunlichst.
Im Fall von Brescia wird der in der Schweiz lebende Täter wohl seine Gefängnisstrafe nie antreten. Doch die Aufarbeitung der Tat und der Schuldspruch haben gleichwohl eine grosse Bedeutung. Dies zeigt sich in den Aussagen von Manlio Milani, der bei dem Attentat seine Frau verloren hatte und als Präsident der Opferorganisation und des «Hauses der Erinnerung» seither für Gerechtigkeit kämpfte.
Unter Tränen verfolgte er die Urteilseröffnung. «Wir haben unsere Familienangehörigen verloren, aber nicht den Willen, die Wahrheit zu erfahren. Das Urteil zeigt, dass alle Bescheid wussten», sagte er gegenüber italienischen Medien.
Damit spielt er auf die Hintermänner des Anschlags an, die als Neofaschisten in Verona beste Kontakte zu den Carabinieri unterhielten und sich dort in einer Kaserne trafen. In der Aufarbeitung dieses Falls gab es etliche Ungereimtheiten und Vertuschungsaktionen. Zum 50-jährigen Gedenktag des Anschlags von Brescia sagte Staatspräsident Sergio Mattarella in einer Ansprache: «Es war ein feiger Anschlag auf die Demokratie.»
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