Neurowissenschaft: KI entdeckt lokale Feldpotenziale im Gehirn - Spektrum der Wissenschaft


Using AI, researchers discovered that local field potentials in the brain reveal how it processes information and anticipates future events, even during periods of rest.
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Angenommen, Sie fahren mit dem Auto auf einer belebten Straße. Die Ampel schaltet auf Gelb, und der Wagen vor Ihnen bremst abrupt ab. Noch bevor Sie das bewusst registrieren, hat Ihr Fuß schon das Bremspedal gedrückt. Wie ist das möglich? Eine zunehmend beliebte Hypothese lautet: Ihr Gehirn hat Sie schon davor in Alarmbereitschaft gesetzt und einige mögliche Zukunftsszenarien, basierend auf Ihren Erfahrungen und der aktuellen Verkehrssituation, durchgespielt. Es erstellt Prognosen darüber, was als Nächstes passieren könnte – beispielsweise, dass die Ampel von Grün auf Gelb springt und der Wagen vor Ihnen vielleicht eine Vollbremsung hinlegen könnte, anstatt zu beschleunigen. Dabei bezieht das Gehirn zahlreiche Informationen mit ein. Wie wirkte der Fahrstil des Vordermanns bisher? Wie lange dauert es normalerweise, bis eine Ampel auf Rot umschaltet? Stehen vielleicht Fußgänger am Straßenrand?

Fachleute bezeichnen diese vermutete Fähigkeit des Gehirns, ständig mögliche Szenarien auf Grund einer Vielzahl von Erfahrungen und Sinneseindrücken zu berechnen, als »predictive coding«. Doch was geschieht im Gehirn, wenn es derartige Vorhersagen generiert? Um mehr darüber herauszufinden, haben wir einen neuen Ansatz entwickelt, die Hirnaktivität mit Hilfe künstlicher Intelligenz (KI) zu untersuchen.

Entscheidend in dem Zusammenhang ist, dass unser Gehirn auch dann arbeitet, wenn es keine offensichtlichen Aufgaben zu erledigen hat. Selbst bei scheinbar völliger Ruhe von Körper und Geist sendet es ständig elektrische Impulse aus. Diese spontane Aktivität haben wir mit Hilfe künstlicher Intelligenz genauer untersucht. Dabei entdeckten wir, dass ein bestimmter Typ elektrischer Signale Einblick darin gibt, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, sogar wenn es keine unmittelbaren äußeren Reize empfängt: die so genannten lokalen Feldpotenziale (LFPs). Sie entstehen durch die elektrischen Impulse von einigen hundert bis zehntausend Nervenzellen innerhalb eines Radius von rund einem Millimeter und spiegeln damit deren Antwort auf ein Eingangssignal wider – egal, ob dieses auf einem Stimulus von außen oder von innen beruht.

Lokale Feldpotenziale registrieren – eine große Herausforderung

Die Untersuchung solcher LFPs stellt eine methodische Herausforderung dar, da solche Informationen leicht im Rauschen der zahllosen anderen elektrischen Signale im Gehirn untergehen. Normalerweise summieren und mitteln Neurowissenschaftler Hirndaten daher über viele Wiederholungen, damit sich klare Muster herauskristallisieren. So spielt man etwa bei einer typischen EEG-Messung denselben Reiz – zum Beispiel ein Bild, Ton oder Wort – meist dutzende Male ab, so dass man durch Mittelung der entsprechenden neuronalen Antworten das relevante Signal vom Rauschen trennen kann. Allerdings erhält man so nur eine Art Durchschnittsantwort des Gehirns auf diesen Stimulus, wodurch einiges an Detailinformation verloren geht.

In Wirklichkeit ist das Gehirn jedoch darauf angewiesen, Informationen in Echtzeit zu verarbeiten. Es kann daher nicht auf Reizwiederholungen warten, um dann einen Mittelwert zu bilden, sondern muss bereits auf individuelle Stimuli reagieren. Die entsprechenden elektrischen Antworten der beteiligten Nervenzellen lassen in ihrer neuronalen Umgebung quasi als Nebeneffekt die erwähnten lokale Feldpotenziale entstehen. Die Aktivitätsmuster der LFPs spiegeln so das dynamische Verhalten des Gehirns wider.

Eine Mittelung über viele Wiederholungen würde aber auch hier die darin enthaltenen Informationen großteils vernichten. Um diesen elektrischen Code des Gehirns besser zu erfassen, verfolgten wir einen anderen Ansatz und konzentrierten uns auf die individuellen LFPs, und dabei auf spontane Potenziale, die ohne äußeren Reiz auftreten. Dazu mussten wir die Gehirnaktivität durch direkt ins Gehirn implantierte Elektroden messen. Aus offensichtlichen ethischen Gründen ist das beim Menschen nur unter ganz bestimmten Umständen vertretbar. Eine Zusammenarbeit mit dem Epilepsie-Zentrum des Universitätsklinikums Erlangen ermöglichte es uns aber, an solche wertvollen Daten heranzukommen.

Erhält das Gehirn keinerlei äußeren Input, ähneln die Aktivitätsmuster recht deutlich jenen, die auftreten, wenn es mit bestimmten Reizen konfrontiert ist

Dort führt man Patienten mit medikamentenresistenter Epilepsie Elektroden ins Gehirn ein, um die Ursprungsherde der Anfälle möglichst exakt zu lokalisieren. So können die Bereiche in einer späteren Operation präzise entfernt werden, ohne unnötig Nervengewebe zu zerstören. Gleichzeitig erlauben es die Elektroden Neurowissenschaftlern wie uns, die lokale Hirnaktivität genauer zu analysieren. Doch das ist gar nicht so einfach, denn die so erhaltenen Signale sind ungemein vielschichtig und komplex.

KĂĽnstliche Intelligenz als Fenster in das Gehirn

Um die Informationsflut besser zu interpretieren, nutzten wir künstliche neuronale Netze, also eine dem Aufbau von Gehirngewebe nachempfundene KI. Mit ihrer Hilfe konnten wir die gemessenen Daten verarbeiten und darin wiederkehrende Muster identifizieren, die bisher unentdeckt geblieben waren. Unter anderem sahen wir uns damit die Eigenschaften der erwähnten LFPs an. Dafür verwendeten wir einen so genannten Autoencoder – ein spezielles künstliches neuronales Netz, das Eingabedaten effizient auf ihre wesentlichen Merkmale reduzieren und die ursprüngliche Information aus dieser komprimierten Version wiederherstellen kann.

Der Autoencoder wurde darauf trainiert, sich wiederholende Muster in den Signalen zu erkennen und die Daten zu vereinfachen, ohne wichtige Informationen zu verlieren. Dadurch konnten wir typische Formen der lokalen Feldpotenziale identifizieren und darüber sogar Rückschlüsse auf die Richtung der Informationsverarbeitung im Gehirn ziehen. Die Methode ließ sich sowohl bei spontaner als auch bei reizabhängiger Hirnaktivität anwenden.

Blick in die Zukunft

Bei der genaueren Untersuchung der so gewonnenen, klareren LFP-Muster stellte sich heraus: Selbst wenn das Gehirn keinen äußeren Input erhält, ähneln die Aktivitätsmuster trotzdem recht deutlich jenen, die bei bestimmten Reizen wie etwa akustischen Signalen auftreten! Genauer gesagt haben wir festgestellt, dass die in Ruhe gemessenen LFP-Formen ganz spezifische Merkmale aufweisen, die typisch für neuronale Antworten auf Sinnesreize sind. Selbst in Momenten der Ruhe scheint das Gehirn demnach fortlaufend verschiedene Wahrnehmungen zu simulieren.

Spontanaktivität | Die Kreuze markieren typische LFP-Signale während Ruhephasen, die solchen auf Grund von äußeren Reizen ähneln.

Das würde tatsächlich zu der Annahme passen, dass das Gehirn kontinuierlich Szenarien durchspielt, die sich aus verschiedenen möglichen Umweltveränderungen als Nächstes ergeben könnten. Dies erklärt möglicherweise, warum wir meist so schnell auf plötzlich eintretende Ereignisse wie das vor uns bremsende Auto reagieren können. Die spontane Aktivität des Gehirns, die sich in den LFPs widerspiegelt, wäre damit eine Art neuronales Testfeld, auf dem mögliche künftige Ereignisse vorweggenommen werden.

Die genaue Form der LFPs kann zeigen, in welche Richtung die Signale im Gehirn laufen

Unsere Ergebnisse stützen somit die oben erwähnte Hypothese des Predictive Coding. Aber nicht nur das – wir fanden zudem heraus, dass die genaue Form der LFPs zeigen kann, in welche Richtung die Signale im Gehirn laufen. Das bedeutet: Bestimmte Merkmale in der Form der gemessenen elektrischen Signale liefern Hinweise darauf, woher die Information kommt und wohin sie sich ausbreitet. Zum Beispiel waren steile LFPs mit starken Ausschlägen oft ein Anzeichen dafür, dass die Signale direkt von tief unter der Hirnrinde liegenden Strukturen wie dem Thalamus kamen, während flachere, breitere LFPs eher darauf hindeuteten, dass die Signale zwischen verschiedenen Bereichen des Kortex weitergeleitet wurden.

Herkunftshinweis | LFPs, die aus dem Thalamus stammen (blau), haben eine andere Form als solche von anderen Kortexarealen (rot)

Frühere Ansätze, die Signalrichtung zu bestimmen, betrachteten lediglich, wie sich die einzelnen Signale zwischen verschiedenen Hirnregionen zeitlich zueinander verhielten, also ihre Synchronität. Das erlaubte nur eine grobe Abschätzung der Abläufe. Im Unterschied dazu ermöglicht unsere Methode eine detailliertere Analyse der Informationsflüsse und zeigt, wie neuronale Netzwerke im Gehirn zusammenarbeiten. Das ist ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg, zu verstehen, wie Gedanken und Empfindungen in unserem Gehirn verarbeitet werden. Zudem eröffnet sie neue medizinische Möglichkeiten, etwa Epilepsieherde noch genauer im Gehirn zu verorten.

KI nach dem Vorbild des Gehirns

Während unsere Studie vor allem zeigt, wie man KI nutzen kann, um die komplexen Prozesse der Kognition zu entschlüsseln, weist sie darüber hinaus auf eine weitere Anwendungsmöglichkeit hin: So wie das Gehirn ständig künftige Ereignisse antizipiert, könnte ein KI-System ebenfalls lernen, Entwicklungen vorherzusehen, obwohl es gerade keine unmittelbaren Eingaben erhält. So könnte ein selbstfahrendes Auto permanent mögliche Verkehrssituationen durchspielen, bevor sie überhaupt eintreten. Damit ließe sich die Sicherheit solcher Techniken enorm verbessern.

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