Justizwillkür in der Schweiz: Strafmass abhängig vom Richter


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Inconsistent Sentencing in Switzerland

A study by Luca Ranzoni reveals substantial inconsistencies in sentencing practices among Swiss judges. The research involved a survey of nearly half of all first-instance criminal judges in Switzerland, who were presented with hypothetical cases. The results showed a dramatic range in sentencing for identical crimes, raising serious concerns about the fairness and equality of the Swiss judicial system.

Significant Variations in Sentencing

In one case involving homicide, the sentences ranged from a one-year suspended sentence to fifteen years of imprisonment. The average sentence was 6.7 years, yet the standard deviation was almost three years. This means that the sentences varied substantially from one judge to another for the same crime. A concerning observation is that one in five sentences was below the legally mandated minimum of five years.

This disparity wasn’t limited to homicide cases. Similar discrepancies were observed in cases of assault, theft, and fraud. While the study didn't collect justifications for sentencing, the significant variations highlight the problem of inconsistency in judicial decision-making. This is despite the fact that the sentences are supposed to follow the same rules and laws.

Regional Differences in Sentencing

The study also identified regional differences in sentencing. Judges in the cantons of Vaud and Valais tended to impose lighter sentences compared to those in Zurich. However, the broad range of sentences persisted across all regions. While regional differences might be offered as an explanation, the author argues this should not be a reason for variation in sentencing given that the same law applies everywhere.

Lack of Consistency in Judicial Decisions

Further complicating the matter is the observation that judges were not consistently lenient or strict. A judge who imposed a harsh sentence in one case might hand down a lenient one in another, even within similar types of crimes. Judges also often showed disagreement on the relative severity of different crimes. This reveals the lack of consistency and uniformity that is a core part of the concerns.

Call for Transparency and Reform

The study concludes that the current system is inadequate in ensuring equitable sentencing and justice. The author calls for increased transparency by making all first-instance sentences publicly accessible. This would create a more informative system for evaluating and improving sentencing practices in the future.

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Der Zufall regiert in der Schweizer Justiz: Ein Richter gibt ein Jahr bedingt, der andere fünfzehn Jahre Gefängnis – für dasselbe Tötungsdelikt

Richterinnen und Richter schätzen die Schwere von Straftaten völlig unterschiedlich ein. Das zeigt eine Erhebung unter erstinstanzlichen Richtern aus der ganzen Schweiz.

Viele Richter, ein Fall, vielfältige Urteile. Illustration Joana Kelén / Neue Zürcher Zeitung

Als Z. nach Ladenschluss noch sein Restaurant aufräumt, bemerkt er, dass sich ein Mann an der Eingangstür zu schaffen macht. Der Mann flüchtet, doch Z. rennt ihm auf der Strasse hinterher und schiesst sechsmal in Richtung des Flüchtenden. Eine Kugel trifft den Mann am Hals, er geht zu Boden, verblutet und stirbt. Die Ermittlungen ergeben, dass Z. bei der Schussabgabe einen Alkoholgehalt zwischen 1,2 und 1,6 Promille im Blut hatte.

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Z. ist 42 Jahre alt, Schweizer, nicht vorbestraft. Mit seiner Ehefrau hat er zwei schulpflichtige Kinder. Welche Strafe soll Z. bekommen? Ein halbes Jahr? 6 Jahre? 15 Jahre?

Das Beispiel ist fiktiv und stammt aus einer Fallbeschreibung, die sämtliche erstinstanzlichen Strafrichter und -richterinnen im Rahmen einer Online-Umfrage erhalten haben. Dies mit der Aufforderung, eine Strafe zu bemessen. So versuchte Luca Ranzoni in seiner Dissertation an der Universität Zürich herauszufinden, wie einheitlich Schweizer Richterinnen und Richter urteilen.

Bedingte Strafen für ein Tötungsdelikt

Es ist das erste Mal, dass in der Schweiz in dieser Form und so systematisch analysiert wird, wie unterschiedlich Richter urteilen. Fast die Hälfte aller erstinstanzlichen Strafrichterinnen und -richter haben an der Untersuchung teilgenommen, die Ranzoni im Rahmen seiner Dissertation durchgeführt hat. Insgesamt haben 241 Personen teilgenommen. Direkt vergleichbar sind die Antworten von 81 Richtern. Da sie dieselben Musterfälle erhalten haben, müssten die Richterinnen und Richter auch zu ähnlichen Strafen kommen. Das hätte bedeutet: Die Gleichbehandlung ist in der Schweiz gewährleistet.

Doch das Gegenteil scheint der Fall.

Es ist gemäss der Untersuchung zu einem grossen Teil dem Zufall überlassen, welche Strafe der schiesswütige Ladenbesitzer Z. erhält: Hat Z. Pech, landet er für 15 Jahre im Gefängnis. Eine derartige Strafe hat der strengste teilnehmende Richter (oder die strengste Richterin) ausgesprochen. Das mildeste Strafmass beträgt einen Bruchteil davon, ein Jahr Freiheitsentzug. Und diese Strafe wurde erst noch bedingt ausgesprochen. Eine Person verhängte sogar nur eine Geldstrafe – brach die Umfrage allerdings vorzeitig ab.

Die höchste Strafe beträgt damit das 15-Fache der mildesten. Ist das noch gerecht? Denn auch abseits einzelner Ausreisser sind die Unterschiede gross: Im Mittel wurden für das Tötungsdelikt Freiheitsstrafen von 6,7 Jahren verhängt, doch die Strafen der einzelnen Richter weichen im Schnitt fast 3 Jahre davon ab. Interessant: Jede fünfte Sanktion liegt sogar unterhalb der gesetzlich vorgesehenen Mindeststrafe von 5 Jahren. Das Recht lässt Strafmilderungen zwar zu, zum Beispiel wenn der Täter aus achtenswerten Gründen handelt. Die Mindeststrafe zu unterschreiten, ist laut dem Bundesgericht jedoch nur ausnahmsweise erlaubt.

Die breite Streuung ist nicht nur bei Kapitalverbrechen zu beobachten. Ranzoni hat den Richtern weitere Musterfälle vorgelegt – eine Körperverletzung, einen Diebstahl und einen Betrug. Die Spannweite beim Strafmass ist bei diesen Fällen sogar noch grösser: Die höchste Strafe beträgt beim Beispiel mit der Körperverletzung das 48-Fache der geringsten. Weil Ranzoni von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern keine Urteilsbegründung verlangt hat, lässt sich allerdings kaum erklären, welche Überlegungen zu derart starken Abweichungen geführt haben.

Ist der Täter besonders brutal vorgegangen?

Strafen korrekt zu bemessen, ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Im Strafgesetzbuch fänden sich dazu nur wenige konkrete Anleitungen, sagt Ranzoni. Die Schwere des Deliktes bestimmt dabei den Strafrahmen: Für einen Diebstahl gibt es zum Beispiel eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren. Bei einem vorsätzlichen Tötungsdelikt bewegt sich die Spanne zwischen 5 und 20 Jahren Freiheitsstrafe.

Wo innerhalb dieser Rahmen die Strafe angesetzt wird, ist Sache der Richterinnen und Richter. Unterschiedliche Kriterien fliessen dabei ein: beispielsweise, ob das Delikt von langer Hand geplant war oder im Affekt verübt wurde. Ist der Täter besonders brutal vorgegangen? Oder stand er selber unter Druck? Auch die Biografie wird berücksichtigt, etwa die Vorstrafen oder eine schwere Kindheit. Und schliesslich kann das Verhalten nach der Tat eine Rolle spielen, etwa wenn der Täter Reue zeigt.

Dass das Gesetz den Richterinnen und Richtern so viel Ermessensfreiheit bei der Beurteilung belasse, sei ein bewusster Entscheid, erklärt Ranzoni: In einem Rechtsstaat müssten zwar für alle dieselben Regeln gelten, aber die Justiz dürfe dennoch nicht alle über den gleichen Kamm scheren. Die Juristen formulieren dies in einer sperrigen, aber für staatliches Handeln zentralen Formel: «Gleiches muss nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt werden.»

«Dimension des Zufalls erheblich»

Wie krass diese elementare Regel beinahe durchgehend verletzt wird, zeigt ein Rechenbeispiel: Beim Fall mit dem Tötungsdelikt unterscheiden sich die Strafen zweier zufällig ausgewählter Richterinnen oder Richter um durchschnittlich mehr als 3 Jahre. «Die Dimension des Zufalls ist also erheblich, zumindest bei diesen fiktiven Musterfällen», sagt Ranzoni. «Das ist unter dem Blickwinkel des Gleichheitsgebotes in der Bundesverfassung höchst problematisch.»

Die befragten Richter verteilen aber nicht nur sehr unterschiedliche Strafen. Sie sind auch uneinig, welche Strafe für den Ladenbesitzer Z. gerade noch vertretbar wäre. Die durchschnittliche Haftstrafe für das Tötungsdelikt betrug bei den befragten Richtern 6,7 Jahre. Allerdings hält eine Mehrheit von 55 Prozent eine solche Strafe gar für nicht vertretbar – und selbst das aus unterschiedlichen Gründen: Ein Teil erachtet sie als zu hoch – der andere als zu tief.

Oder zugespitzt: Die Justiz hält im Schnitt ihre eigenen Urteile nicht für angemessen. Paradoxerweise sind die einzelnen Richterinnen und Richter von den eigenen Wertmassstäben allerdings ziemlich überzeugt. Befragt man sie nach ihrer Selbsteinschätzung, glaubt die Mehrheit, sich mit ihrer Strafe im Mittelfeld zu bewegen.

Waadt und Wallis sind milder als Zürich

Die grossen Unterschiede lassen sich zum Teil regional erklären: Wer die Absicht hat, einen Menschen zu töten, sollte sich als Tatort beispielsweise den Kanton Waadt aussuchen. Dort verhängten sämtliche Richter und Richterinnen, die an der Untersuchung teilgenommen haben, eine Strafe unter 8 Jahren. Im Wallis wurden mit einer Ausnahme weniger als 6 Jahre ausgesprochen, rund die Hälfte blieb sogar unter 5 Jahren. Deutlich grösser ist das Risiko einer harten Strafe in Zürich: Fast ein Viertel aller Richterinnen und Richter verhängte hier eine Strafe von 10 oder mehr Jahren, nur jeder siebte begnügte sich mit weniger als 5 Jahren.

Ranzoni hat für seine Untersuchung aus statistischen Gründen nur sechs grössere Kantone verglichen. Auch aus anderen Gründen lässt sich nur bedingt ein regionales Muster erkennen. So sind die Strafen in der Westschweiz tendenziell zwar tiefer als in der Deutschschweiz – doch die Bandbreite ist überall gross.

Schon frühere Untersuchungen hatten regionale Unterschiede gezeigt. Oft werden sie als Ausdruck des Föderalismus oder aufgrund von lokalen Besonderheiten gerechtfertigt. Doch nach Ansicht von Ranzoni sticht dieses Argument nicht. Das Strafgesetzbuch gelte für die gesamte Schweiz gleichermassen, meint er. Strafen sollten primär nach dem Verschulden des Täters bemessen werden – und nicht aufgrund von Kriterien der regionalen Kriminalpolitik.

Streng bei Tötung, milde bei Betrug

Ranzoni hat auch untersucht, ob es besonders strenge Richter gibt, die konsequent harte Urteile aussprechen. Und er ist zu einem überraschenden Befund gekommen: Die meisten Richterinnen und Richter sind nicht konstant streng oder mild, sondern die Positionierung hängt stark vom Fall ab. So hat ein Richter, der beim Tötungsfall an die Obergrenze ging, bei Betrug eine tiefe Strafe ausgesprochen. In dem ebenfalls fingierten Fall geht es um einen türkischen Beschuldigten, der im grossen Stil Sozialhilfebetrug begeht, um sich und seiner Familie einen luxuriösen Lebensstil zu ermöglichen.

Aber auch das Gegenteil kommt vor: Richter, die bei Diebstahl oder Betrug ans Maximum gehen und bei einer Tötung nur milde Strafen aussprechen. Ein Muster sei nicht erkennbar, sagt Ranzoni. Teilweise sind sich die Richterinnen und Richter auch nicht darüber einig, wie die Straftaten untereinander zu gewichten sind: Während alle Teilnehmenden das Tötungsdelikt als das schwerste und den Betrug als das zweitschwerste Delikt beurteilten, fiel die Einordnung von Körperverletzung und Diebstahl uneinheitlich aus: Für 36 Prozent war die Körperverletzung das leichteste Delikt, für 57 Prozent der Diebstahl.

So bedenklich die Zahlen sind – ob die Unterschiede vor den realen Gerichten ebenfalls so krass ausfallen würden, lässt sich nicht sagen. So haben sich die Teilnehmer deutlich kürzer mit den Fällen befasst, als es in der Realität der Fall wäre. Es ist ausserdem unklar, ob die Antworten repräsentativ für alle Schweizer Richter sind, da die Umfrage anonym durchgeführt wurde.

Besser wäre es deshalb, statt fiktive Fälle tatsächliche Urteile zu vergleichen. In den meisten Kantonen sind die Urteile der ersten Instanz jedoch nicht öffentlich. Und es gibt auch keine Datenbank, die man auswerten könnte, um so wachsende Zweifel zu beseitigen.

Ranzoni verlangt deshalb eine gesetzliche Publikationspflicht für alle erstinstanzlichen Strafurteile. Aus diesen soll ein Strafzumessungsinformationssystem gebaut werden: ein System also, mit dem die Gerichte erfahren können, wie ein bestimmter Sachverhalt üblicherweise bestraft wird.

Dass viele Richter im Rahmen einer Untersuchung Strafen ausfällen, die ihre Berufskolleginnen und -kollegen nicht einmal für vertretbar erachten, gibt Ranzoni zu denken. Er hat deshalb grosse Zweifel, ob das heutige System zu gerechten Strafen führt. «Die Verwirklichung der Rechtsgleichheit in der Strafzumessung ist mangelhaft», sagt er. «Damit darf die Schweiz nicht zufrieden sein.»

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