The article discusses the shifting attitude towards French in German-speaking Switzerland. Once seen as the language of love and sophistication, it's now often perceived as a difficult and unpopular school subject. The decline in proficiency is highlighted, with only 51% of students meeting learning objectives, prompting concern among educators.
Several factors contribute to French's decline. The rise of English as a global language, the perceived difficulty of French grammar, and changes in educational approaches, such as early exposure through 'Frühfranzösisch,' are explored. The article suggests that 'Frühfranzösisch', while intending to introduce children early to the language, often leads to negative experiences, resulting in 'burnt earth' rather than genuine language acquisition.
The article questions the motivations behind maintaining early French education, suggesting it's not simply about linguistic unity or resisting English dominance, but perhaps a preservation of childhood ideals and the discovery of other cultures. The contrast is drawn between the once-exotic experiences of learning about French families and lifestyles with the readily available access to American culture and media that children have today.
The article notes that the continued popularity of French at the gymnasium level seems to stem from a utilitarian approach to education, rather than a genuine appreciation of the language. Students recognize its importance in a multilingual workplace. However, this pragmatic view contrasts with the richer, more cultural and emotional experiences associated with language learning in the past.
The article proposes a new approach to French language instruction, focusing on inter-cultural understanding and social justice. The example of a French teacher in Mayotte is used to illustrate this approach, demonstrating how French can unlock narratives of colonial history and empower students to engage in societal change. Ultimately, the author suggests that making French relevant and engaging in the lives of students will be key to its survival.
Französisch hat ein Imageproblem. Aber was, wenn es noch immer die Sprache der Liebe wäre?
Ernst Haas / Getty Images
Jahrzehntelang galt die französische Sprache in der Deutschschweiz als einzig angemessene Ausdrucksform der wahren Empfindung – heute gilt sie vor allem als schulisches Problemfach. Höchste Zeit für eine Rehabilitierung.
Es gab eine Zeit, lange vor dem Frühfranzösisch, da unterschrieben Dreizehnjährige aus Gossau, Solothurn oder Glattbrugg ihre Liebesgeständnisse mit: «Je t’aime». Zwei Silben, ein Versprechen – und eine Verneigung nicht nur vor der einen, unvergleichlichen Person, sondern auch vor dem Gefühl selbst, dessen sprachliche Ausdrucksform nur das Französische sein konnte.
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Heute stehen viele Teenager Liebesbriefen skeptisch gegenüber – und der Fremdsprache Französisch in offener Feindschaft. «Ich hasse Französisch, alle hassen es, wir können es sowieso nicht», stöhnt ein Kind im eigenen Haushalt. Ein Zürcher Gymischüler klagt: «Ich war in den Ferien in Südfrankreich und habe nichts verstanden.» Ein anderer schreibt auf die Frage nach seinem Lieblingswort: «La poubelle» (der Abfalleimer), und noch ein anderer: «Je ne sais rien.»
«Wie konjugiert man schon wieder avoir?», fragt mein Kind. Eine Mutter sorgt sich: «Findet man in der Schweiz eine Lehrstelle, wenn man in Französisch einen Einer hat?»
Gemäss einem Bericht der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren erreichen nur 51 Prozent der Deutschschweizer Jugendlichen die Leistungsziele in Französisch, in manchen Klassen sind es sogar nur 11 Prozent. Lehrkräfte sind besorgt.
Ihr Fach gelte als «uncool», sagen sie, es werde gefürchtet wie Mathematik, «nur dass man lauter darüber schimpft». Eine Lehrerin meint, dass heute schlechter Französisch gesprochen werde als noch vor zehn Jahren. Andere sehen die Defizite vor allem bei der Grammatik und dem schriftlichen Ausdruck – bis hinauf in die Hochschulen. «Es gibt einen zunehmenden Anteil Studierender im Lehrdiplom, die Mühe haben, sich sprachlich korrekt auszudrücken», sagt Anja Bohner, Französisch-Fachdidaktikerin an der Universität Zürich.
Was ist da los? Verlernen wir gerade eine Fremdsprache, die Generationen vor uns für unentbehrlich hielten – weil der Beruf es verlangte, die Neugier, das bildungsbürgerliche Selbstbild? Waren wir – Sonderfall Schweiz! – nicht immer stolz auf unsere quasi im Pass verbürgte Frankophilie, die uns den Nimbus der Weltoffenheit und kulturellen Beweglichkeit verlieh?
Vielleicht liegt es ja nicht an uns allein, sondern auch an der Zeit, der Globalisierung – und dem Französisch selbst und seiner tückischen Grammatik. Wäre es ein Tier, es käme wohl als Bergziege daher: schön, elegant und verstiegen, geschmeidig im eigenen Terrain. Aber wehe, man will es fangen! Dann wird es störrisch, blasiert und schwierig und meckert uns seinen Hohn entgegen. Um wie viel zutraulicher ist da das Englische! Sitcom-Englisch, Frühenglisch, Krabbelenglisch – wie ein Golden Retriever wedelt es mit dem Schwanz, immer zum Spielen bereit.
Dass das Französische in der Schweiz heimisch ist, das steigert nur noch seine Heimtücke. Denn so lässt es uns unsere Ohnmacht nicht erst in Marseille oder Paris erleben, sondern schon am Bahnhofkiosk in Neuenburg. Klar, die Kioskfrau kann Englisch, wir bekommen unsere Cola, aber Gräben überwinden wir damit nicht. Hätten unsere Vorfahren bei der Gründung des Bundesstaates das Französische «gehasst», die Verfassung wäre nicht zustande gekommen; es gäbe keine moderne Schweiz, keine Willensnation – und keine Hélènes und Jean-Pierres, die mit ihrem Akzent zum Verlieben wie kleine Geschenke des Himmels für ein paar Monate in unseren Schulzimmern sitzen.
Es nagt am Selbstbewusstsein, wenn wir das französische Gefühlskino nur noch in deutscher Synchronfassung verstehen. Wenn wir Geschäftstelefonate mit der Romandie auf Englisch führen und schliesslich auch das alte Bildungsprojekt begraben, Proust – wenigstens ein paar Seiten! – im französischen Original zu lesen. Es fühlt sich an wie ein Verlust, den wir mit einer Bringschuld verbinden – um sie als Erbschuld an die nächste Generation weiterzureichen. Vokabel-Lernziele, Französisch als Leistungs-, Prüfungs-, Promotionsfach: Das sind nicht zuletzt auch Produkte unseres gekränkten kulturellen Über-Ichs. Kein Wunder, versetzen sie unsere Kinder in Angst und Schrecken.
Wie nah uns die Sache mit dem Französischen geht, zeigt der Stellvertreterkrieg um das Frühfranzösisch an den Primarschulen. Vor zwanzig Jahren eingeführt, um Kinder so früh wie möglich an den Klang der «fremden» Landessprache heranzuführen, hat es sich zur Pflichtübung entwickelt. Nicht selten von Lehrkräften ohne Fachausbildung erteilt, hinterlässt es zwar bei manchen Kindern ein paar Vokabeln oder gute Noten, bei der Mehrheit aber verbrannte Erde. Beim Übertritt in die Oberstufe meinen sie dann, «nichts» oder «gefühlt nichts» von der Sprache gelernt und «nichts Gutes» im Unterricht gemacht zu haben – ausser «basteln und dem Eiffelturm Kleider anziehen», wie sich eine Schülerin am Zürcher Literargymnasium Rämibühl erinnert.
Was also verteidigen die Kulturkämpfer, die am Frühfranzösischen festhalten? Das Ideal eines Zusammenhalts, der auf vier offiziellen Landessprachen beruht? Es ist überlagert von einer kleinteilig-multikulturellen Sprachenlandschaft, in der Migrationsidiome wie Portugiesisch, Albanisch, Spanisch oder Serbokroatisch dominieren. Oder wollen sie Europa vor dem angloamerikanischen Imperialismus retten? Auch diese Schlacht ist verloren. Worum geht es also? Um die Verteidigung der Kindheit?
Es gab eine Zeit, da trug das kulturell Andere, wie es Deutschschweizer Kindern in der sechsten oder siebten Klasse erstmals entgegentrat, den Namen Leroc: Monique, Daniel, Monsieur et Madame Leroc – voilà une famille! Sie waren ein Gegenmodell zum eigenen, langweiligen Leben. Daniel zum Beispiel, der Sohn, versteckt sich eines Tages in einem «camion». Unverhofft wird er darin von Paris nach Montpellier transportiert. Zut alors – Montpellier? Wie gross die Welt doch sein musste!
In den Genuss amerikanischer Sitcoms kamen damals erst die Happy Few, deren Eltern einen Fernseher besassen. Für die Mehrheit aber war das Leben der Anderen dieses französische, mittelständische aus dem Fremdsprachenlehrbuch, in dem sich die Tochter nicht wie man selbst ein paar Hosen bei Manor kaufte, sondern durch «les grands magasins» streifte, «une robe» suchte und «je voudrais une autre couleur» sagte, wenn ihr die Farbe missfiel. Und was tat Monsieur Leroc, wenn er sich krank fühlte («Il a la grippe»)? Er liess sich daheim von Madame Leroc Zeitung und Essen ans Bett bringen, aber auch Cognac, Zigaretten und alles, was der liebe Gott verboten hat.
Was immer die Lerocs aus dem Klett-Verlag auch sagten und taten – es hatte einen verwegenen, leicht frivolen Beigeschmack. Und eine Poesie, die noch das tristeste Regenwetter in allen Farben schillern liess: «Il pleut. La rue est grise et triste. Monsieur Leroc porte son imperméable. Madame Leroc porte son parapluie.» Einmal auswendig gelernt, blieben einem diese Sätze für immer.
Zugegeben, die Gymnasiasten von damals verstanden ihre Pariser Altersgenossen kaum besser, als ihre eigenen Kinder heute es tun. Ihr papierenes Rüstzeug versagte in der Praxis. «Wir konnten auch kein Französisch», so erinnert sich der pensionierte Sekundarlehrer Andreas Aebi, «nur ein wenig lesen und schreiben. Aber das Interesse war da.»
Der Funke konnte dann später zünden, in Feriensprachkursen, im Studium. Wortschatz, Grammatik, die Stunden im Sprachlabor – sie waren die Option für eine Zukunft, in der man vielleicht auf den Spuren frankophiler Intellektueller wie Niklaus Meienberg oder Paul Nizon wandeln würde oder wenigstens in Paris einen Kaffee bestellen, ohne zu erröten.
Im 20. Jahrhundert liess sich die Geläufigkeit bei den «pronoms partitifs» noch geopolitisch rechtfertigen. Frankreich war die Grande Nation – Weltkriegs-Siegermacht, Heimat des Sonnenkönigs. Französisch die Hochsprache einer Kultur, die im 17., 18. Jahrhundert Europa dominiert hatte, Lingua franca ihrer Zeit, Nachfolgerin des Lateins. Sprache der Diplomatie, gesprochen von Madrid bis St. Petersburg. Sprache der Aufklärung und Vernunft, der Freiheit und Gleichheit.
Sprache Napoleons, der Hegemonie, des Kolonialismus. Sprache Molières, Flauberts, Sprache der Bildung. Sprache des Chansons, der Küche, des Savoir-vivre. Und bis in die 1960er Jahre: Sprache Sartres, Camus’, des Existenzialismus, der die Sprache selbst infrage stellte. Danach zählten Taten, die Aura zerfiel.
Heute hat sich die Konstellation der globalen «puissance douce», der Soft Power, zum Nachteil der Frankofonie verschoben. Ob in Literatur, Musik, Film oder Mode – Französisch ist nur noch eine Stimme unter vielen, übertönt von Englisch, Spanisch, Japanisch oder Koreanisch. Es gibt Rap aus der Banlieue, aber wer hört hin? Selbst französische Jugendliche konsumieren fast nur noch englischsprachige Musik. Und French House, in den nuller Jahren einer der letzten grossen französischen Kulturexporte, ist vor allem Rhythmus und Groove – eine Sprache ohne Semantik.
Sollte es noch Deutschschweizer Jugendliche geben, die das Erbe pflegen und sich von französischen Wellenlängen davontragen lassen, dann unter den bereits zitierten Schülerinnen und Schülern am Zürcher Literargymnasium Rämibühl, die alle auch Latein gelernt haben. Zwei Jahre lang sind diese Vierzehnjährigen von ihrer Lehrerin Danièle Thiébaud, einer Französischmuttersprachlerin, in Sprachbädern gestählt worden, und wirklich: Das ist bei vielen von ihnen gut angekommen. «Französisch gehört zu meinen Lieblingsfächern», sagt ein Mädchen. «Niemand in der Klasse hasst es, eher noch Englisch.»
Widerspruch bei den Mitschülern erntet sie damit nicht. Jemand spricht zwar von «viel Stoff» und davon, dass es «rasch vorwärts» gehe und «schwierig» sei, jemand anderes sagt: «Man hat das Gefühl, man mache schneller Fehler als auf Englisch.» Aber die meisten finden die Sprache «nützlich» oder sogar «schön». Ein Junge meint: «In der Schweiz ist Französisch schon wichtig, weil es die zweitmeistgesprochene Landessprache ist.» Noch philosophischer drückt sich ein Mädchen aus: «Ich finde es gut, dass wir verschiedene Sprachen lernen, das ist eine Abwechslung im Schulalltag.»
Bejahung des Notwendigen, Freude an der Pflicht: Die Restpopularität des Französischen am Gymnasium beruht – so legt es die Stichprobe nahe – auf einer Verstandesleistung im Geist der Aufklärung. Wie hat es nochmals Voltaires Romanfigur Candide ausgedrückt, wenn auch vielleicht ironisch? «Il faut cultiver notre jardin.» («Wir müssen unseren Garten bestellen.») Dreizehnjährige werden ausgebildet für den mehrsprachigen Arbeitsmarkt, doch der Satz «Je t’aime» gehört nicht mehr zu ihrem Wortschatz. Candides Garten schrumpft zur Chiffre, das Erfahrungsfeld zum Laufbahnmodul, das einen ähnlichen Nutzen verspricht wie Kurse in Excel und Maschinenschreiben.
Kein Wunder, macht sich in den Herzen derer, die noch für das Französische glühen – in den Herzen der Lehrerinnen und Lehrer –, eine Leere breit. «Bildung wird heute utilitaristisch verstanden, nicht als humanistisches Gut», sagt eine Sekundarlehrerin, «das Wissen und seine Vertiefung, die Freude an der Erkenntnis, verkommen zur Nebensache.» Das Verdikt «Hassfach» richte sich insofern weniger gegen das Französische als gegen den schulischen Zeitgeist, der Inhalte den überbordenden Lehrplänen und ihren Kompetenz- und Leistungszielen unterordnet.
Stellwerktest. Multicheck. Sek A oder B? Atemlos hetzen die Jugendlichen durch ihr Bildungscurriculum, ständig werden Skills vermessen und in Waagschalen geworfen. Nur noch drei statt vier Lektionen Französisch am Gymnasium – genug für ein paar kürzere Lektüren, Filme mit französischen Untertiteln oder Edith Piafs verrauchtes «Non, je ne rrregrette rrrien!», aber zu wenig für einen literarischen Überblick und die Entdeckung neuer sprachlicher Horizonte. «Das ist ein kleines Drama», sagt Danièle Thiébaud, die Französischlehrerin am Rämibühl. Für geistige Spritztouren – als blinder Passagier nach Montpellier! –, für literarische Verführungen, philosophische Gedankenspiele zu Saint-Exupérys «Petit Prince» oder Sartres «Les jeux sont faits» fehlt am Ende die Zeit.
So wird die Flamme der Begeisterung zur Sparflamme. «An den Gymnasien kommen aufgrund des Stundenabbaus immer weniger Schülerinnen und Schüler auf ein Niveau, das sie zu einem Romanistikstudium ermutigt, und die wenigen, die sich dennoch dafür entscheiden, haben tendenziell nicht mehr dieselben Grundlagen wie früher», sagt die Gymilehrerin und Fachdidaktikerin Anja Bohner. «Gleichzeitig kann es sich die Uni eigentlich nicht leisten, weitere Studierende zu verlieren, was wohl wiederum Anpassungen an diese neue Ausgangslage erfordert. So wird es zunehmend zur Herkulesaufgabe, das tiefere Verständnis der Sprache und die Fähigkeit zur Textanalyse dieser zukünftigen Lehrpersonen zu gewährleisten.»
Droht der stolzen Bergziege in der Deutschschweiz bald eine Streichelzooexistenz?
Bevor es so weit ist, raten Fachleute zu Klettertouren mit dem Wildtier. Man kann ihm einiges abschauen: «Französisch schult das Denken, das Verständnis für Strukturen und Hierarchien», sagt die zuvor zitierte Sekundarlehrerin. Und die Fachdidaktikerin Anja Bohner: «Es spielt eine Rolle, ob ich im Nominativ oder im Akkusativ vorkomme, als Subjekt oder als Objekt einer Handlung.» Wer die Relativpronomen einer Fremdsprache beherrscht, begreift kausale Zusammenhänge. Wer sich mit dem Subjonctif beschäftigt, muss sich damit auseinandersetzen, wo Fakten aufhören und subjektive Ansichten beginnen.
Aber warum sollte man seine geistigen Muskeln ausgerechnet am Französischen trainieren? Ist nicht vielleicht die Mathematik effizienter, die ihm als Hassfach Nummer eins vorausging? Andere Sprachen wie Finnisch, Ungarisch oder Türkisch fordern das Gedächtnis stärker, Latein und Altgriechisch schärfen den Blick für Strukturen genauso, Englisch und Chinesisch haben die grösseren Reichweiten. Mit reinen Vernunftgründen lässt sich die Sprache der Liebe, wenig erstaunlich, kaum verteidigen.
Wer ihr verfallen ist, redet ja auch selten von ihrem Nutzen. Eher von Momenten ästhetischer Ergriffenheit: Etwas Unbekanntes, Äusseres hat sich wie eine leise Explosion mit etwas Innerem verbunden. Prousts Madeleine-Episode, gelesen an einem verregneten Dienstagnachmittag bei Frau Meloni. Das Wort «papillon» aus dem Mund einer Pariser Modeverkäuferin. Oder einfach die Buchstabenfolge «bonjour» – Samira Rüesch, Französischlehrerin am Gymnasium Biel-Seeland, entdeckte sie als kleines Mädchen auf dem Toilettenpapier bei den Grosseltern und fragte sich, wie man das wohl ausspricht.
Es ist dieses zweckfreie Staunen, das die Leidenschaft entfacht – und mit ihr die Neugier, die aus den Gefühlswüsten der Excel- und Qualitätsmanagementkurse hinausführt. Etwa wenn uns die graue, verregnete «rue» aus dem Leroc-Lehrbuch Jahrzehnte später in Jacques Préverts legendärem Gedicht «Barbara» wiederbegegnet: «Rappelle-toi Barbara / Il pleuvait sans cesse sur Brest ce jour-là / Et tu marchais souriante / Épanouie ravie ruisselante / Sous la pluie.» Schwärmer finden sich in solchen Oden bis in alle Ewigkeit wieder. Ist das Liebe? Mais bien sûr.
Doch wie soll der Funke auf die Schülerinnen und Schüler überspringen, unter denen das Fach, wie die Lehrerin Samira Rüesch es ausdrückt, als «inhärent unbeliebt» gilt? «Jugendliche beschäftigen sich mit Identitätsfragen, sie versuchen über die Welt sich selbst zu verstehen», sagt Rüesch. Daran könne sie als Französischlehrerin genauso gut anknüpfen wie jeder Chemie- oder Biologielehrer. Sie lässt ihre Schülerinnen und Schüler in kurzen Texten gezielt nach bestimmten grammatikalischen Formen suchen.
Durch die Verbindung mit Lektüreerlebnissen werden Strukturen lebendig und sinnhaft – für die Jugendlichen genauso wie für die alten Geniesser, die mit dem «passé simple» im Gepäck ihre literarischen Berge erklimmen, von Flaubert bis Camus, vom «Tartarin de Tarascon» bis zum «Petit Nicolas». Mit Marcel Proust begeben sie sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Mit Molière erkunden sie die Abgründe einer europäischen Kultur, die einst die Welt beherrschen wollte.
Nur, mit der Fischverkäuferin in Bayeux hat man sich damit noch nicht verständigt. Dazu braucht es einen zweiten Schritt: Das Lektüreerlebnis muss zum Kommunikationserlebnis werden, «zu einem sozialen Zweck», wie Samira Rüesch sagt, denn jedes Lernen sei sozial – gemäss dem Pädagogen Lew Wygotski. Im Unterricht schafft sie dafür Gesprächssituationen, spielerisch, mit Improvisationstheater, Bingo, Speed-Dating. Zwanzig Sekunden Zeit für eine Antwort – das löst die Zungen der meisten.
«Es ist das gesellschaftliche Ziel, das den Inhalt des Unterrichts rechtfertigt, und nicht umgekehrt», sagt Rüesch. Was aber passiert, wenn man das Hassfach vom Kopf auf die Füsse stellt? Wenn nicht mehr die Académie française das Mass aller Dinge ist, die Hüterin des irregulären Plurals, und auch nicht mehr nur Zola oder Stendhal? Dann wird die Sprache zum Hebel, mit dem sich die Weltbühne drehen lässt.
Denn das kulturell Andere begegnet uns heute nicht mehr am Kiosk in Neuenburg oder auf den Märkten von Paris. Es begegnet uns dort, wo die Frankofonie weiterwächst, auf entlegenen Inseln, in Afrika, Südamerika, Französisch-Guyana. Von weltweit 285 Millionen Französischsprachigen leben heute 120 Millionen in Afrika. Doch in den Erzählungen der globalisierten Moderne treten sie meist nur als Objekte europäischer Erfolgsgeschichten auf: im Akkusativ.
Für das Schulfach Französisch liegt hier eine Chance: Es kann die Geschichte hinter den Privilegien entschlüsseln und die Sprache zum Mittel der interkulturellen Verständigung machen. Samira Rüesch versucht das mit Mikaël Olliviers Roman «Tout doit disparaître». Ein französischer Lehrer lebt vier Jahre lang auf der Insel Mayotte, wo sich eine «société de coco», eine Kokosnussgesellschaft, gerade in eine «société de coca» verwandelt – Sinnbild kolonialer Verwüstung im neuen Gewand. Als er zurück in Paris ist, wirft ihn die Arroganz der Festlandfranzosen aus der Bahn. Er bricht mit seinem bisherigen Leben, wechselt seinen Freundeskreis und wird zum Gerechtigkeitskämpfer.
Andere verstehen heisst: ihre Sprache verstehen. Vielleicht ist das der Grund, warum Französisch die Sprache der Liebe bleibt – nicht weil man sie liebt, sondern weil man durch sie lieben lernt. «Wenn meine Schüler das Gymnasium verlassen, sollen sie wissen, wo sie ihren Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft leisten können», sagt Samira Rüesch. «Auch dank dem Französischunterricht.»
Der österreichisch-amerikanische Fotograf Ernst Haas galt als Pionier der Farbfotografie. Seine Bilder aus Paris sind Momentaufnahmen des täglichen Lebens, eingefangen auf der Strasse. Er schuf damit eine visuelle Definition der Stadt des Lichts.
Ein Artikel aus der «»
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