«Existenzen zerstört»: Kaufsüchtige Frau gesteht jahrelange Betrugsserie


A 27-year-old woman in Switzerland was sentenced for a six-year-long fraud scheme fueled by shopping addiction, resulting in over 420,000 francs in damages.
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«Ich checkte nicht, dass ich Existenzen zerstörte», sagt die arbeitslose Frau. Mit ihrem sechs Jahre dauernden Kaufrausch richtete sie einen Schaden von 420 000 Franken an

Eine 27-Jährige hat sich jahrelang ihren Lebensunterhalt damit verdient, Pakete auf andere Namen zu bestellen. Sie musste sich vor dem Bezirksgericht Winterthur verantworten.

Weil die 27-Jährige irgendwann nicht mehr kreditwürdig war, begann sie Pakete auf fremde Namen zu bestellen, zum Teil handelte es sich um Nachbarn im selben Haus. Gaëtan Bally / Keystone

Im Gerichtssaal in Winterthur beschreibt die 27-jährige Beschuldigte die Anfänge ihrer Delinquenz: Eine Freundin habe vorgeschlagen, man könne doch einmal Kleider bestellen, sie anprobieren und dann wieder zurückschicken. Sie habe die Kleider aber nicht mehr retour gesandt und auch nicht bezahlt. Sie habe Komplimente bekommen, und dann habe eine Kaufsucht angefangen. Sie sei in ein regelrechtes «Jagdfieber» geraten.

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Die Anklageschrift ist 214 Seiten lang und listet über 400 Einzeldelikte auf. Das früheste datiert vom Oktober 2017, das letzte vom Januar 2024. 79 Privatkläger haben sich konstituiert. Die Staatsanwältin beantragt eine vollziehbare Freiheitsstrafe von 4 Jahren und einen Landesverweis von 10 Jahren. Denn die Beschuldigte ist deutscher Nationalität, wenn auch grösstenteils in der Schweiz aufgewachsen. Sie spricht perfekt Schweizerdeutsch und ist vollumfänglich geständig.

Sie habe auch extra Kleider in anderen Grössen bestellt, weil sie sich habe Freundschaften erkaufen wollen. Vieles habe sie verschenkt. Vieles verkaufte sie und lebte davon. Nach drei abgebrochenen Lehren arbeitete sie nicht mehr. Am Anfang sei sie euphorisch gewesen. Aus Scham habe sie dann aber auch viele Kleider einfach in die Altkleidersammlung gegeben. Sie sei computerspielsüchtig geworden, habe sich täglich 8 bis 12 Stunden lang mit Gamen beschäftigt und ganze Nächte durchgespielt.

Junge männliche Opfer auf Badoo kennengelernt

Weil sie irgendwann nicht mehr kreditwürdig war, begann sie Pakete auf fremde Namen zu bestellen, wobei sie Daten von real existierenden Personen verwendete, ohne dass diese Bescheid wussten. Zum Teil handelte es sich um Nachbarn aus demselben Mietshaus.

Sie versuchte, die Pakete abzufangen, was nicht immer gelang. In der Anklageschrift sind nebst Kleidern auch Sexspielzeug, Alkohol, Lego, Kosmetik- und Pflegemittel, Geschenkgutscheine, elektronische Geräte wie Computer, iPads, Mobiltelefone oder eine Apple Watch sowie Tierfutter aufgeführt.

In einer zweiten Phase fragte sie vor allem männliche Kollegen, die ihr offenbar vertrauten, ob sie Pakete an deren Adresse liefern lassen könne. Als Grund gab sie an, bei ihr seien Pakete abhandengekommen. Die Opfer willigten ein, in der Meinung, die Beschuldigte bestelle auf eigene Rechnung und verwende lediglich ihre Anschrift. Wenn die jungen Männer Rechnungen bekamen, versicherte die Beschuldigte, dass es sich um ein Missverständnis handle und sie für sämtliche Kosten aufkomme, was aber nicht geschah.

350 Vorgänge mit einem Schaden von rund 200 000 Franken fallen in diesen Komplex. Viele dieser jungen Männer hatte die Beschuldigte kurz zuvor über Online-Dating-Apps wie Badoo kennengelernt. Ob die Männer Gegenleistungen dafür erwartet hätten, wird sie gefragt. «Für mich waren es oberflächliche Beziehungen», sagt sie, «ich habe mir eingeredet, dass ich dann irgendwann bezahle.» Die Höhe des Schadens raube ihr aber heute den Atem und schnüre ihr den Hals zu.

Auch reihenweise Abonnemente für Mobiltelefone bestellte sie auf die Namen anderer Personen. Ihre Badoo-Bekanntschaften forderte sie jeweils kurze Zeit nach dem Kennenlernen dazu auf, mit ihr in Mobiltelefongeschäfte zu gehen und dort Mobilfunkverträge, teilweise mit Gerätekauf, abzuschliessen.

Sie brachte Bekannte auch dazu, für sie Kreditverträge abzuschliessen, einmal 44 000 Franken, einmal 24 000 Franken, einmal 52 000 Franken. Dazu trat sie gegenüber ihren Opfern als erfolgreiche Businessfrau mit angeblich eigenem Geschäft auf. Sie fälschte Lohnabrechnungen und Bankauszüge.

Ihre Bankbelege wiesen ein Guthaben von angeblich 922 000 Franken aus. «Das Absurde daran ist, ich habe meinen Kontostand selber geglaubt. Ich habe in einer Traumwelt gelebt», sagt die Beschuldigte im Gerichtssaal. Der gesamte Vermögensschaden wird auf rund 420 000 Franken beziffert.

Eine psychiatrische Gutachterin diagnostizierte eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus mit einer pathologischen Kaufsucht und einer Spielsucht. Trotzdem sei die Frau aber für ihre Taten uneingeschränkt schuldfähig. «Das ist komplett falsch», wehrt sich die Beschuldigte vor Gericht: «Ich merkte nicht, was ich anrichtete, ich checkte nicht, dass ich Existenzen zerstörte.»

Sie versichert auch, dass keine Rückfallgefahr bestehe. Sie ist inzwischen verheiratet, Mutter eines Kleinkindes und erneut schwanger. Ihr Leben habe sich komplett verändert. Sie arbeitet allerdings nicht. Ihr Ehemann kommt für sie und die Familie auf.

Betroffene waren kognitiv beeinträchtigt

Die Staatsanwältin erklärt, die Beschuldigte habe in einem Kaufrausch, aber überhaupt nicht unbewusst gehandelt. Über einen Zeitraum von 6 Jahren habe sie ihren Lebensunterhalt so verdient. Sie habe keinerlei legale Einkünfte gehabt und ständig neue Opfer suchen müssen, deren Daten sie habe verwenden können, wofür sie planmässig habe vorgehen müssen. Es falle zudem auf, dass viele ihrer insgesamt 35 Opfer kognitiv beeinträchtigt und bebeiständet seien.

Sie habe diese Opfer «wie Weihnachtsgänse ausgenommen», obwohl diese ihr zum Teil persönlich sehr nahe gestanden hätten. Während des Strafvollzugs von 4 Jahren sei eine ambulante Massnahme anzuordnen. In Bezug auf den Landesverweis handle es sich nicht um einen Härtefall. Die Frau habe sich in der Schweiz nie integriert und sei ihr bisheriges ganzes Erwachsenenleben lang deliktisch tätig gewesen.

Der Verteidiger plädiert auf eine Freiheitsstrafe von 30 Monaten und argumentiert in seinem Plädoyer mit einer Opfermitverantwortung. Zudem betont er, dass sich die Beschuldigte seit 16 Monaten nichts mehr habe zuschulden kommen lassen. Sie habe alle Zivilforderungen im Grundsatz anerkannt.

Es sei kein Landesverweis anzuordnen, und für die ambulante Therapie sei der Strafvollzug aufzuschieben. Falls die Beschuldigte ins Gefängnis müsse, würde sie von ihrem Kind, ihrer sinnstiftenden Aufgabe und ihren sozialen Strukturen getrennt, was zu einer massiven psychischen Destabilisierung führen würde.

Das sieht auch das Gericht so. Es verurteilt die Beschuldigte zwar zu einer vollziehbaren Freiheitsstrafe von 3 Jahren wegen mehrfachen gewerbsmässigen Betrugs, mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfachen Identitätsmissbrauchs und weiterer Straftatbestände.

Die Freiheitsstrafe wird aber zugunsten einer ambulanten Therapie aufgeschoben. Die 27-Jährige muss also nicht ins Gefängnis. Abgesessen hat sie bisher erst zwei Tage Haft. Sie muss allerdings Schadenersatz bezahlen. Beschlagnahmte Vermögenswerte werden eingezogen, und es werden ihr sämtliche Kosten auferlegt.

Der Gerichtsvorsitzende begründet den Strafaufschub mit der veränderten Lebenssituation. Es sei Ruhe in ihr Leben eingekehrt. Auch eine ambulante Therapie ausserhalb des Gefängnisses sei «kein Zuckerschlecken».

Auf den Landesverweis wird aus zwei Gründen verzichtet: Einerseits sieht das Gericht einen Härtefall. Die engste Familie lebe in der Schweiz. Andererseits falle auch eine Interessenabwägung der privaten Interessen gegenüber den öffentlichen Interessen nach Sicherheit zu ihren Gunsten aus. Es handle sich um Vermögensdelikte und nicht um Delikte gegen Leib und Leben.

Urteil DG240026 vom 23. 5. 2025, noch nicht rechtskräftig.

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