This interview with philosopher Susanne Schmetkamp delves into her profound grief after losing two sons—one shortly after birth and another in a traffic accident. The article explores the physical and emotional aspects of grief, societal responses to loss, and the search for meaning in the face of tragedy.
Schmetkamp vividly describes the intensity of her emotions immediately following the accident. She recounts feelings of shock, raw pain, and the struggle to express them in a society that often avoids confronting death. Her experience emphasizes the physical manifestations of grief, including a loss of appetite and a sense of being diminished.
The article highlights the societal awkwardness surrounding death and grief. Schmetkamp discusses the difficulty people have in offering support, noting that while a simple “How are you?” may suffice, many struggle to find appropriate words. She questions whether this avoidance stems from a desire to protect the grieving person or a reluctance to confront one's own mortality.
As a philosopher, Schmetkamp reflects on how her philosophical background aids in processing her grief. While noting that excessive intellectualization can be detrimental, she finds solace in writing and exploring philosophical concepts related to death, loss, and meaning.
Schmetkamp discusses various coping mechanisms: physical therapies, meditation, and engaging in activities that ground her, like tending to a memorial space or dancing.
Die Philosophin Susanne Schmetkamp ist fünffache Mutter. Ein Kind verlor sie kurz nach der Geburt. Eines bei einem Verkehrsunfall in Zürich. Gibt es Glück in der Dunkelheit?
In dieser Interview-Serie sprechen Rafaela Roth und Sacha Batthyany vom «NZZ am Sonntag Magazin» mit Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft über die Liebe, denn sie sind der Meinung: Sie kommt zu kurz. ❤️wins.
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Frau Schmetkamp, früher trugen trauernde Witwen ein Jahr lang schwarze Kleider als Zeichen der Trauer. Hätten Sie sich manchmal gewünscht, als trauernde Mutter erkennbar zu sein?
Nein. Obwohl solche Rituale und Abläufe sicher auch Vorteile hatten. In der ersten Zeit wurde eine Witwe bekocht, erst allmählich kam die Rückkehr ins Leben. Das war bei uns auch so, wir erhielten enorm viel Unterstützung. Trotzdem ist es gut, dass in unserer individualisierten Gesellschaft jeder und jede auf seine oder ihre Weise trauern kann. Ich glaube, eine Sichtbarkeit würde dazu führen, dass man sich ausgeliefert fühlt. Ich habe das manchmal, wenn ich an der Säule stehe. Ich weiss nicht, ob Sie schon einmal da waren?
Sie meinen die Unfallstelle in Zürich am Escher-Wyss-Platz, an der Ihr Sohn ums Leben kam.
Ich gehe immer wieder mal hin, manchmal schaffe ich es nicht alleine, weil ich mich ausgestellt fühle.
Dürfen wir Sie an diesen Ort begleiten?
Jetzt?
Vielleicht morgen? Ihr sechsjähriger Sohn ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, kurz vor Weihnachten 2022. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag?
Ich finde es schön, dass Sie «sechsjährig» sagen. In den Zeitungen stand oft, er sei erst fünf gewesen, dabei war er fast sechs. Mir war es immer wichtig, das zu betonen, weil es ja auf dem Weg in den Kindergarten passierte. Ich war an jenem Tag schon früh total nervös. Das kann Zufall gewesen sein, aber mit diesem Gefühl ging ich in den Tag, und dann rief Tonys Vater an und sagte, es sei etwas Schlimmes passiert. Ich kann es bis heute nicht aussprechen.
Sind unsere Fragen nach dem Unfall pietätlos?
Ich würde es spüren und Ihnen sagen, wenn mir eine zu nahe geht.
Bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch haben wir uns gefragt, wo Interesse aufhört und Voyeurismus beginnt.
Das kann ich nur subjektiv beantworten. Ich persönlich habe nur positive Erfahrungen von echter Empathie und echtem Mitgefühl gemacht, wenn ich öffentlich über meine Geschichte sprach. Mich beschäftigte eher eine andere Frage: Ob ich mich und meinen Einzelfall zu stark ins Zentrum rücke, wo es doch viele andere Eltern und Menschen gibt, die Angehörige auf tragische Weise verlieren.
Wovor haben Sie Angst?
Sich öffentlich zu äussern, ist eine Gratwanderung. Es besteht die Gefahr der Instrumentalisierung der Geschichte meines Sohnes, meiner Familie oder meiner Beziehungen. Zugleich habe ich die Einstellung, dass das Private politisch ist, dass wir aus solchen Zeugnissen Verbundenheit herstellen können, indem wir uns in unserer Verletzlichkeit zeigen. Sprechen wir über Schmerzen und Leid, setzen wir uns der Tendenz entgegen, dass wir das Schreckliche ausblenden und dem gesellschaftlichen Druck nachgeben, möglichst bald wieder auf die Beine zu kommen.
Trauern ist politisch?
Im Idealfall finden sich andere Menschen, die trauern, in einem solchen Gespräch, wie wir es hier führen, wieder. Das wäre mein Anliegen: Sowohl als Philosophin als auch als Frau und Mutter etwas weiterzugeben.
Lassen Sie uns noch einmal auf jenen Tag kurz vor Weihnachten zurückkommen. Was ist in Ihnen passiert, als Sie es erfuhren?
Ich war dem Wahnsinn nahe und habe agiert wie ein Tier. Das liegt einerseits in meiner Natur, ich bin impulsiv und drücke meine Emotionen aus. Andererseits ist es auch eine natürliche Reaktion. In diesem Moment gab es keinen Filter mehr. Ich habe alles rausgebrüllt. Trotzdem ist es mir wichtig, dass ich hingegangen bin. Ich fände es heute schwierig, wenn ich mich nicht damit konfrontiert hätte.
Was hat Ihnen in diesen ersten Momenten geholfen?
Freunde und Nachbarn waren vor Ort, mein Lebenspartner hielt mich fest im Arm. Ich erinnere mich, wie wir gemeinsam am Boden lagen und ich ganz fest auf den Asphalt schlug. Ich erinnere mich auch an einen Polizisten, den ich als ungemein empathisch empfand, weil er einfach zuhörte. Ich schrie ihn an und sagte, es müsse sich um einen Irrtum handeln, ich hätte schon ein totes Kind. Und er wiederholte, ohne zu werten oder zu beschwichtigen: «Sie haben schon ein totes Kind?» Das war enorm auffangend. Später kamen Freunde aus Deutschland, die Wohnung war voll, alle hatten alles stehen und liegen gelassen und ihre Weihnachtsfeiern abgesagt.
Wollten Sie nie alleine sein?
Nein. Dieses Zusammensein mit allen war zwar geprägt von tiefer Trauer, aber es entstand auch ein Raum von Geborgenheit und Gemeinschaft, der kaum zu beschreiben ist. Es war eine magische Schönheit inmitten des ganzen Schreckens. Das ist ein Thema, das mich auch als Philosophin interessiert: Was sind Momente des Glücks in der tiefsten Dunkelheit? Zudem galt es, praktische Dinge zu übernehmen, einkaufen, kochen, putzen, staubsaugen – und mit den Kindern spielen. Sie brauchten unbedingt eine Art von Normalität.
Warum sind wir unbeholfen im Umgang mit Trauernden?
Oft würde ein einfaches «Wie geht es dir?» reichen, doch vielen Menschen fällt es schwer, weil die Frage so trivial scheint. Wir verfügen über wenig eingespielte Formen im Umgang mit Trauernden.
Trauen wir uns nicht, weil wir die trauernde Person schonen wollen, oder wollen wir in Wahrheit uns selbst nicht mit ihrem Schmerz konfrontieren?
Ist das nicht verständlich? Beides ist wichtig: empathisch zu sein und auf sich selbst zu achten. Manche haben angesichts solcher Schicksalsschläge plötzlich selber Angst um ihre Kinder oder werden mit ihrer eigenen Verletzlichkeit konfrontiert.
Was erzählen Sie über sich, wenn Sie fremde Menschen kennenlernen?
Wenn wir in den Ferien anderen Familien begegnen, fällt mir bei uns immer diese Lücke auf. Manchmal spreche ich es an, und manchmal bereue ich es gleich wieder, eben weil es auch andere sehr erschüttert. Aber oft entsteht dadurch eine enge Verbindung. Plötzlich reden wir ganz anders und ehrlicher miteinander.
Kann man lernen, empathisch zu sein?
Es gibt zwei verschiedene Arten, wie wir die Perspektive einer anderen Person einnehmen können. Wir können uns erstens vorstellen, an der Stelle der anderen Person zu sein, und uns überlegen, was wir in ihrem Fall fühlen würden. Die andere Variante ist, uns vorzustellen, wir wären die andere Person. Wir empfinden nach, was sie fühlt – da sind wir bei ihr statt bei dem, wie wir fühlen würden. Das braucht Übung und Kenntnis, erhöht aber die Chancen, dass wir die andere Person verstehen und ihr helfen können. Man muss bereit sein, wirklich zuzuhören.
Sind wir: Also, wie geht es Ihnen?
Ich trauere. Ich weiss, dass dieser akute Zustand der Traurigkeit und der heftigen Emotionen sich nach einer gewissen Zeit in etwas Ruhigeres, Stabileres wandeln wird. Man kann es Liebe nennen oder Dankbarkeit oder Commitment. Es ist eine Hinwendung zur verstorbenen Person, eine Liebe, die nicht mehr so stark von der Trauer durchwirkt ist. Bei meinem zweiten Sohn bin ich noch nicht so weit.
Sie haben vor knapp zwölf Jahren bereits ein Kind verloren.
Da war es irgendwann so, dass sich die Schmerzen beruhigten und sich in eine Bezogenheit wandelten. Bei Tony ist es anders. Ich fühle mich ihm enorm verbunden, er ist dauernd da, aber da ist noch zu viel Schmerz.
Hilft die Philosophie beim Verarbeiten Ihrer Trauer?
Zu verkopftes Nachdenken kann obsessiv werden. Aber das philosophische Schreiben beruhigt meinen Geist. Ich habe schnell gemerkt, dass ich nicht erst im Rückblick über meine Trauer reden möchte und darüber, wie ich vielleicht Heilung erfuhr. Ich will vielmehr versuchen, für den Ist-Zustand eine Sprache zu finden. Ich will den Finger in die Wunde legen. Viele Philosophen – und das waren vor allem Männer – haben das Private, insbesondere die Gefühle, aus ihrer philosophischen Beschäftigung ausgeschlossen. Das hat sich etwas geändert. Immer mehr Philosophinnen schreiben über ihre Erfahrungen als Frau, als Mutter, über Geburt, Liebe, Tod. Ich bin der Ansicht, dass unser Leben immer auch unser Denken beeinflusst, und frage etwa: Was sagt das über meinen Körper als Mutter, wenn ich seit dem Unfall das Gefühl habe, mir wurde etwas aus dem Leib gerissen? Trauern Mütter und Väter anders? Und: Warum empfinde ich Scham?
Gehen wir der Reihe nach: Trauern Mütter anders als Väter?
Das kann ich nicht abschliessend sagen. Viele Eltern, deren Kind stirbt, ob an Krankheit oder Unfall, verspüren Gefühle des Scheiterns bezüglich ihrer Schutz- oder Fürsorgepflicht. Bei Müttern ist der Schmerz vielleicht körperlicher. Ich denke, es spielt eine Rolle, wenn man das Kind geboren hat und durch denselben Blutkreislauf mit ihm verbunden war. Ich will trauernden Vätern allerdings nicht absprechen, dass sie auch körperliche Schmerzen empfinden.
Sie schreiben, es habe sich für Sie angefühlt, als würden Sie von unten nach oben aufgeschlitzt.
Ja, diese Sprachbilder, dass einem das Herz rausgerissen wurde, oder dass man sich gespalten oder amputiert fühlt, das sind nicht nur Metaphern, sondern Erfahrungswerte von Menschen, die Bilder für ihr Empfinden gesucht haben. Ich musste während extremer Phasen der Trauer auch an meine Geburten denken: Beides sind existenzielle Transformationen. Geburten sind schmerzhaft, und für viele können sie sogar traumatisch sein. Ich habe damals die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich die Wellen der Schmerzen annahm und mich nicht dagegen wehrte, sich etwas löste. So ähnlich ist es bei der Trauer. Sie löst sich, wenn man sie annimmt.
Trauer ist eine körperliche Erfahrung.
Trauer ist wie ein Gewand, das dich umhüllt und begleitet. In diesem Sinne ist sie sogar etwas wie Verliebtsein, auch wenn der Vergleich kontraintuitiv klingt. Wenn wir verliebt sind, ist unsere Welt ganz durchwirkt vom Gefühl des Verliebtseins. Wir denken intensiv und obsessiv an die Person, in die wir uns verliebt haben. Mit der Trauer um einen Menschen verhält es sich ähnlich.
Ist alles, was wir emotional durchleben, mit dem Körper verbunden?
Klar, ob das jetzt Hass ist oder Neid, Liebe oder Trauer. Das ist nichts, was einfach nur im Kopf abläuft. Der trauernde Körper ist ein niedergedrückter, er will sich vielleicht auch verstecken. Die erste Zeit war die Trauer bei mir auch mit Gefühlen der Scham verbunden.
Weil Sie nicht da waren, um ihn zu schützen?
Viele Menschen fühlen sich schuldig, wenn jemand stirbt, gerade wenn es ein Unfall war. Man schämt sich, seiner Rolle nicht vollumfänglich gerecht geworden zu sein. Für mich war das, was Tony passiert ist, auch eine Form der Demütigung: Wir blenden als Gesellschaft den Tod aus. Es darf ihn nicht geben, doch wenn er sich zeigt, merkt man, dass man sich getäuscht hat, dass es eine höhere Macht gibt, der man chancenlos gegenübersteht. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat das treffend beschrieben. Wir Menschen der Moderne glauben so sehr an den Fortschritt und das Besserwerden, dass wir den Tod und Krankheiten als Skandal empfinden.
Wie hat sich diese Scham während des Trauerns körperlich gezeigt?
Ich wollte verschwinden, und teilweise ist das fast eingetroffen. Ich habe mich so klein, so dünn und unsichtbar gemacht, dass die Leute mich im Tram an die Wand drängten. Das ging so weit, dass ich selber nicht mehr sicher war, ob ich da bin. Viele verlieren den Appetit: Auch das ist dem Zustand des Verliebtseins ähnlich. Solche Erfahrungen stossen einen in eine Identitätskrise und fordern einen auf, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wer man ist, wer man davor war und wer man sein will.
Auf Ihrer Homepage steht an einer Stelle: «Ich habe vier Kinder und lebe in Zürich.» An einer anderen Stelle heisst es: «Ich bin fünffache Mutter.» Zeigt sich Ihre Identitätskrise an diesen beiden Sätzen?
Es ist sicher ein Ausdruck davon, wie schwierig es für mich ist, Worte dafür zu finden, wer ich bin. Denn ich bin ja weiterhin fünffache Mutter, und doch fehlen zwei. Die Krise besteht in der veränderten, ja zerbrochenen Selbst- und Weltbeziehung: Wir gehen von einer bestimmten Kohärenz unserer Lebenserzählung aus, bewegen uns durch unsere Welt, die bestimmte Protagonisten hat, Familie, Freunde, Arbeitskollegen, Projekte und Aufgaben. Wenn dann plötzlich jemand stirbt, kann das unser Bewusstsein nicht gut fassen. Die Welt sieht noch gleich aus, hat sich aber gleichzeitig fundamental verändert. Deswegen entsteht bei vielen auch diese eigenartige Kluft zwischen dem Wissen, dass jemand gestorben ist, und dem Nicht-Glauben-Können, dass es wirklich passiert ist.
Dann setzt das magische Denken ein, das die amerikanische Autorin Joan Didion in ihrem Buch beschrieb. Didions Mann stirbt, während die Tochter im Koma liegt.
Sie lässt die Schuhe ihres Mannes vor der Haustüre stehen, für den Fall, dass er wiederkommt, obwohl sie weiss, dass das paradox ist. Aber es gibt ihr Trost.
Didion schreibt: «Man muss die Verstorbenen loslassen, muss sie zum Foto auf dem Schreibtisch werden lassen. Um selbst wieder zu leben.»
Ich würde nicht von loslassen sprechen. Ich finde es besser, man integriert die Menschen, die von uns gingen, und wandelt die Beziehung in eine Form der Liebe um. In der Forschung spricht man von fortgesetzter Bindung, von continuing bonds.
Sie sagen, Trauer zeigt sich körperlich: Wie tröstet man den Körper?
Wenn der Körper und der Geist aus den Fugen geraten sind, braucht es Techniken und Menschen, die wieder für Balance sorgen. Umhüllende Beziehungen sind enorm wichtig, auch das Kuscheln mit den eigenen Kindern. Körpertherapien helfen; Meditation, Massagen, Yoga, Capoeira. Oder der Fokus auf eine elementare Tätigkeit: Holz schleppen, Feuer in einem Kamin entfachen: Für mich ist das extrem heilsam. Ausserdem: Tanzen!
Welche Musik?
Wenn ich in Klubs gehe, dann Techno.
Wie geht es Ihnen bei all diesen Fragen?
Ich merke, dass die Unfallfragen mich aufwühlen, da muss ich in meinen Schutzraum, weil sie etwas in mir triggern. Es tauchen innere Bilder auf.
Wie muss man sich Ihren Schutzraum vorstellen?
Wir leben in einer beschleunigten Gesellschaft, die Menschen gönnen sich wenig Ruhepausen, und wenn, dann werden auch die der Selbstoptimierung unterworfen. Wir blenden vieles aus, um nicht aus dem Funktionieren zu fallen. Schmerzvolle Erfahrungen wie existenzielle Trennungen, Krankheit oder Tod erhalten kaum Raum. Denn sie sind verbunden mit Momenten des absoluten Stillstands, des Aushaltens und Ausgeliefertseins. Sich einen Schutzraum zu schaffen, bedeutet, dass man innehält und sich fragt: Was brauche ich jetzt? Ich habe für mich eine kleine Auszeit eingeplant und werde später in die Sauna gehen, weil ich mir schon dachte, dass Ihre Fragen mich aufwühlen werden.
Am nächsten Morgen treffen wir uns am Escher-Wyss-Platz, ein nasskalter Dienstag. Zürich im Winter kann so unfassbar hässlich sein. Die nahe Rosengartenstrasse zieht sich wie eine schreiende Narbe durch das Quartier. Am Boden vor der Säule stehen erloschene Kerzen, vertrocknete Blumen stecken in russverschmutzten Vasen. Der Ort ist zum Denkmal geworden. Bei Rotlicht sehen Autofahrerinnen und Autofahrer Schmetkamp zu, wie sie neue Blumen in die Vasen legt und die verwelkten wegschmeisst. Sie zündet Kerzen an und schafft Ordnung. «Im Jahr 2022 waren 88 Kinder an Verkehrsunfällen beteiligt, 25 davon verunfallten auf dem Schulweg», heisst es nüchtern in der Verkehrsunfallstatistik der Stadt Zürich. Und weiter: «Ein Kind zu Fuss verlor auf dem Schulweg leider sein Leben.»
Tony.
Ist diese Säule für Sie eine Art Grab?
Es ist ein Ort des Erinnerns und des Trostes. Auch wenn hier das Allerschrecklichste geschehen ist, gibt mir diese Säule Kraft. Sie bietet einen Rahmen, um sich Gedanken zu machen. Die verstorbene Person darf hier ganz im Mittelpunkt stehen, die Trauer wird nicht überdeckt mit anderen Dingen. Wir haben auch zu Hause einen Gedenkort.
«Erinnerungen sind das Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können», sagt Jean Paul. Ist das so?
Erinnerungen können höllisch schmerzen, aber wenn mir jemand sagen würde: «Hier hast du eine Tablette, die alle deine schmerzhaften Erinnerungen löscht», würde ich ablehnen.
Wir spazieren der Limmat entlang im Nieselregen, vorbei an ein paar einsamen Hündelerinnen und ehrgeizigen Joggern.
Woher kommt das, dass Sie den Schmerz suchen und sich konfrontieren wollen?
Ich suche den Schmerz nicht, ich möchte ihm nur nicht ausweichen. Das ist sicherlich eine Charaktereigenschaft und in meiner Biografie begründet. Menschen mit traumatischen Erfahrungen haben die Tendenz, weniger Angst zu haben vor intensiven Erfahrungen. Und es gibt bei allen Leiderfahrungen einen absoluten Schmerz und einen relativen.
Was meinen Sie damit?
Für jeden Menschen ist Schmerz, Leid oder Trauer zunächst einmal absolut. Da hilft keine Beschwichtigung. Alle Menschen – man merkt das am besten bei Kindern – brauchen in der akuten Leiderfahrung Trost. Und doch gibt es auch eine Relativität des Schmerzes. Auch wenn es paradox klingen mag – es gibt noch Schlimmeres, das hätte passieren können. Wenn wir erkennen, dass auch andere Menschen leiden oder viel Tragischeres erleben, kann ein Gefühl von Solidarität entstehen und das Wissen: Ich bin nicht allein. Zum Beispiel bin ich bei aller Absolutheit und Individualität meiner Trauer zugleich dankbar, dass ich noch weitere Kinder habe.
Dürfen wir fragen: Ist das Verfahren um den Unfall Ihres Sohnes abgeschlossen?
Es finden noch immer Anhörungen statt.
Spielt es für Sie eine Rolle, ob der Lkw-Fahrer Tony hätte sehen können oder nicht?
Ich möchte darüber nicht reden. Aber das macht natürlich einen Unterschied.
Stehen Sie mit dem Fahrer in Kontakt?
Nein. Vielleicht wird sich das einmal ergeben.
Wie bewegen Sie sich heute im Verkehr?
Ich war schon immer recht schreckhaft im Verkehr, und das wurde wieder schlimmer. Viele Menschen sind sich gar nicht bewusst, wie schlimm das für mich ist, wenn jemand hupt. Mich durchfährt ein unheimlicher Schmerz. Der Escher-Wyss-Platz ist ein besonders gefährlicher Ort, wir Anwohner haben immer Lotsen gefordert, aber es hiess, es sei sicher genug.
Sind Sie generell furchtsamer geworden?
Ich habe einerseits an mir beobachtet, schreckhaft zu sein und Gefahren zu sehen, wo keine sind. Auf der anderen Seite stellte sich aber auch eine neue Furchtlosigkeit ein, die auf dem Glauben an das Gerechte fusste: Dir ist ja schon dies und jenes passiert, es kann ja wohl nicht sein, dass dir noch was Schlimmes passiert. Zwischen diesen Polen schwanke ich.
Haben Ihre Trauererfahrungen Ihre Art zu lieben geprägt?
Ich erinnere mich an einen beinahe schon ästhetischen Moment, nachdem unser erster Sohn starb. Seine Nabelschnur war gerissen, wir durften ihn 24 Stunden lang begleiten. Wir fühlten uns aufgehoben in diesem Spital und erlebten diese Stunden als unglaublich schönen Prozess der Verbundenheit mit ihm: ein Moment der innigen Liebe. Und da kam in mir die Frage über den Sinn des Lebens auf, die man uns Philosophinnen immer stellt, und mir wurde klar: Jeder Mensch muss seinen eigenen Sinn finden. Manche helfen anderen Menschen, andere wollen gute Väter sein. Für mich bestand der Sinn des Lebens in diesem Moment darin, zu lieben. Nicht geliebt zu werden, sondern vor allem Liebe zu schenken.
Gilt das noch heute?
Damals war das für mich ein Trost. Ja, und ich sehe darin etwas, was mich ausmacht.
Wie sehr hat der Tod des Kindes Ihre Beziehung belastet?
Als Mutter stand ich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Trauer ist auch sehr selbstbezogen, man ist wie in einem Tunnel. Aber man darf nicht vergessen, auch ich selbst nicht, dass alle Beteiligten trauern, unsere Lebenspartner, die anderen Kinder, jeder und jede auf seine Weise. Die Gefahr für Konflikte ist sehr gross: Alle sind dünnhäutig, erschöpft und angeschlagen.
Man trennt sich, weil man sich gegenseitig an das Unglück erinnert.
Das ist mir zu allgemein formuliert. Aber es kann passieren, dass jede und jeder in der eigenen Trauer gefangen ist. Empathiegrenzen sind oft erreicht. Es ist dann kein Verständnis mehr möglich.
Was bedeutet Liebe, Frau Schmetkamp?
Zur Liebe gehören für mich Staunen und Wertschätzung, aber auch Mut zur Verletzlichkeit und Veränderung. In Freundschaften und Liebesbeziehungen können wir wachsen. Fürsorge ist auch ein wichtiges Wort, uns liegt das Wohl des anderen am Herzen. Bei der Eltern-Kind-Liebe kommt hinzu, dass sie nicht daran geknüpft ist, dass das Kind zurück liebt. Es liegt, noch viel mehr als bei Erwachsenen, eine bedingungslose Liebe vor.
Wo geht die Liebe hin, wenn jemand stirbt?
Sie bleibt über den Tod hinaus, die Fürsorge wird zur Verbundenheit und verwandelt sich in Rituale. Der französische Philosoph Gabriel Marcel sagt: «Jemanden lieben heisst ihm sagen: Du wirst nicht sterben.»
Der Schriftsteller Peter Bichsel, der vor wenigen Wochen verstorben ist, sagte: «Wenn jemand stirbt, nimmt er eine Sprache mit.» Kennen Sie das?
Das kann ich bestätigen. Es gibt eine geteilte Sprache und geteilte Codes. Bei Kindern kommt hinzu, dass sie ihre eigene kindliche Perspektive auf die Welt haben. Stirbt das Kind, bricht auch diese weg.
Was hat Tony mitgenommen?
Er hatte eine sehr neugierige und staunende Sicht auf die Welt, war sehr freundlich und vertrauensvoll. Als er etwa zwei Jahre alt war, sagte er: «Der Mond ist mein Freund.» Da waren wir alle sprachlos. Er wollte von da an immer den Mond sehen. Und deshalb haben viele Freunde oder auch wir ihm alles Mögliche mit dem und über den Mond geschenkt.
Sie trugen gestern einen ET-Pullover. Auch deshalb?
Ja, er liebte den Film. Wir haben ihn gemeinsam gesehen und geweint.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie heute den Mond sehen?
Er ist für uns alle zu einem Sinnbild geworden. Wir erhalten Fotos vom Mond, von Freundinnen und Freunden. Und dieser Pullover ist eine Art, mich mit Tony zu verbinden. Ich trage ihn auf meiner Haut.
Zu dieser Interview-Serie: Über die Monate veröffentlichen wir an dieser Stelle Gespräche über die Liebe mit Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft, denn wir sind der Meinung: Sie kommt zu kurz. Bereits erschienen: Teil 1 – Salome Balthus: Eine Prostituierte kauft sich einen Mann. Teil 2 – Martin Suter: Ein Schriftsteller verliert seine grosse Liebe. Teil 3 – Felizitas Ambauen: Ein Paar entschlüsselt den Weg zum Glück. Teil 4 – Anna Rosenwasser: Eine Lesbe weigert sich, zu hassen. Teil 5 – Oskan und Stöckle: Zwei, die kochen, um zu leben. Teil 6 – Deborah Feldman: Eine Jüdin schert aus. Teil 7 – Gülsha liebt anders. Teil 8: Eva Illouz – Eine Intellektuelle blickt hinter die Macht. Teil 9: Peter Bichsel – Ein Land verliert seinen Schreiber.
❤️wins.
Ein Artikel aus der «»
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